Vier neue Titel: je einer aus USA, Italien, Frankreich und Kuba. Die Schauplätze: Shanghai, Hongkong, „Swankerton“, „Clot“, Piemont, Rom, Französisch-Guayana, Bois-sec, Havanna.
Angesichts des Großverbrechens Angriffskrieg, das Putin begeht, möchte man über Krimis schweigen. Seit zwei Jahren und sechs Monaten.
Neu auf Platz Eins im August:
1 Die Narren sind auf unserer Seite (The Fools in Town are on Our Side
Vermutlich werden wir das Erscheinen des ausstehenden allerletzten Bandes in der großartigen Werkausgabe des Alexanderverlags abwarten müssen, um endgültig entscheiden zu können, welcher Roman von Ross Thomas sein bester war.
Zu den Favoriten um den ersten Platz zählt ab jetzt in jedem Fall DIE NARREN SIND AUF UNSERER SEITE. Es ist nicht nur einer seiner längsten Romane, es ist auch der, in dem seine unnachahmliche Arroganz, sein beißender Sprachwitz und seine Leidenschaft für das große und das kleine Spiel besonders bewundernswert miteinander um die Wette ringen. Nicht zuletzt deswegen, weil er in Vater Gisbert und Sohn Julian Haefs zwei kongeniale und geistesverwandte Übersetzer gefunden hat.
Solche Vergleiche hat nicht einmal Raymond Chandler geschafft:
„Er lächelte viel, aber das hatte nichts zu bedeuten, und ich hatte den Eindruck, genau so würde er lächeln, wenn ein Hund überfahren würde. Insgesamt sah er ein bisschen affektiert aus, bis man seine dunkelblauen Augen bemerkte, die er vom örtlichen Henker geliehen haben könnte, falls es einen gab. Es waren Augen, die eigentlich einem Revolverhelden oder Piraten gehören sollten oder vielleicht einem leicht durchgedrehten Astronauten. Es waren Augen, die einem Menschenleben, auch dem eigenen, nur geringen Wert beimaßen.“
So charakterisiert Thomas‘ Ich-Erzähler Lucifer Dye den Mann, der ihm anbietet, für ein Honorar von 50.000 Dollar eine Stadt zu korrumpieren.
Sie ist eine fiktive Stadt an der texanischen Küste und heißt „Swankerton“, was nach einer übertragbaren Geschlechtskrankheit klingt. Überhaupt Thomas Figuren-Namen: Der Medienmagnat der schon durch und durch korrupten und weiter zu korrumpierenden Stadt heißt „Channing d’Arcy Phetwick der Dritte“, übersetzt: altfranzösischer Kolonialadel Fett-Bös III. Oder Lucifers (!) 26-jähriger Anführer mit den Astronauten-Augen heißt Victor Orcutt – was zwischen „Sieger“ und „Killerwal“ changiert.
Nicht nur Namen wie diese schaffen eine leicht irre, zwischen Wahn und präziser Charakterisierung changierende ironische Grundstimmung, auf der die in drei Ebenen erzählte Geschichte aufbaut. Erstens ist das die Biographie Lucifers – keiner von Thomas‘ pittoresken Helden hat eine so bizarre, breit erzählte Vorgeschichte erhalten. Zweitens ist das seine Geheimdienstgeschichte: Wie Lucifer in die ultrageheime Sektion 2 kam, zum Sündenbock gemacht wurde und ihr schlussendlich doch… Nicht Spoilern! Drittens, wie Lucifer und Co. (unter ihnen „Homer Necessary“, abgehalfterter Polizeichef, und die liebenswert kühle „Carol Thackerty“, Ex-Hure, ihr Name spielt auf Thackeray und seinen „Jahrmarkt der Eitelkeiten“ an) Swankerton aufmischen. Mit Nötigung, Erpressung und Lügen – Schusswaffen kommen nur im Notfall zum Einsatz.
Wie Lucifer zum emotionalen Zombie wurde, wird aus seiner Lebensgeschichte klar. Seine Unschlagbarkeit im bösen Spiel charakterisiert einer seiner (vielen) unterlegenen Gegner, der Gangster Lynch, folgendermaßen:
„Er ist ein Loser, der nicht davon ausgeht zu gewinnen. Um Loser, die damit rechnen zu gewinnen, muss man sich keine Gedanken machen, weil sie einem automatisch einen Vorteil verschaffen. Aber Sie haben keine Vorteile gegenüber einem Loser, der nach Ihren eigenen Regeln spielt und dem es scheißegal ist, ob er gewinnt oder verliert oder bei plus/minus null rauskommt. Es ist ihm sogar egal, ob er überhaupt spielt, und das heißt, Sie haben nie etwas gegen ihn in der Hand, und das wiederum heißt, Sie können nie wirklich gewinnen. Und das macht zwar Ihnen etwas aus, ihm aber nicht, also ziehen Sie den Kürzeren, egal was passiert.“
Eine Charakteristik, die in ihrer zynischen Brillanz auch auf viele andere heimatlose Anti-Helden von Ross Thomas zutrifft.
In der bisher auf Deutsch zugänglichen, zu einer kläglichen Schrumpfform verschandelten Fassung des Romans von 1972 unter dem Titel „Unsere Stadt muss sauber werden“ sucht man auch diese Passage vergebens. Alf Mayer hat im immer wieder hervorragenden Crimemag akribisch den kommerziell motivierten Mord des Ullsteinverlags von 1972 an DIE NARREN SIND AUF UNSERER SEITE rekonstruiert. 580 Seiten (heute bei Alexander) waren auf 143 (!) Seiten zusammengesenst. Weshalb DIE NARREN SIND AUF UNSERER SEITE aus dem Alexanderverlag völlig zu Recht als deutsche Erstausgabe auf Platz 1 der Krimibestenliste steht – zweiundfüfzg Jahre nach der ersten deutschen Übersetzung.
Im Crimemag finden Sie außerdem ein Interview mit den beiden Übersetzern und das Kapitel 10 abgedruckt, das von Lucifers Kindheit in einem Shanghaier Bordell handelt und wie er seinen späteren Ersatzvater Gorman Smalldane kennenlernt.
Am 2. August habe ich im Deutschlandfunk Kultur DIE NARREN SIND AUF UNSERER SEITE besprochen. Hier der Text und hier meine Stimme.
6 Am Samstag wird abgerechnet (La vita paga il sabato)
Davide Longo (*1971) veröffentlicht mit AM SAMSTAG WIRD ABGERECHNET seinen vierten Roman mit dem skurrilen Duo Commissario Vicenzo Arcadipane und Corso Bramard, zwei Versehrten, die wortkarg und stoisch in einer versehrten Welt herumstochern. Wie immer ist es die Bergwelt des Piemont, in der Longo wohl auch selbst klettert.
Das Dorf „Clot“ in der Nähe des realen Cuneo ist auf keiner Karte zu finden. An die Fatasmagorien einer Fred Vargas erinnern die Ingredienzien, aus denen der Fall des erdrosselten Filmoguls und der verschwundenen Schauspielerin mit dem fantastischen Blick zusammengesetzt ist: Ein spätmittelalterliches dörfliches Ritual, rätselhafte Fresken, ein verborgener Saal. Dem gegenüber erhebt sich ein bruchgefährdeter Staudamm, errichtet von der Baufirma eines ultrakatholischen DC-Politikers. Schwefel von heidnischem Ketzertum, Weihrauch und die lang geplante Rache einer Frau hängen in der meist regenverhangenen Bergluft.
Am meisten Spaß machen mir neben den verschrobenen Plot-Elementen die kleinen Löcher und Sprünge in Longos Prosa, die gut zu einem halbanalphabetischen Commissario passen, dem alle Anspielungen auf Filme, Romane Geschichtsereignisse entgehen und der trotzdem den richtigen Riecher hat.
7 Darwyne
Die Romane Davide Longos gewinnen einen beträchtlichen Reiz aus der Natur, in der sie spielen.
Der Roman DARWYNE des Franzosen Colin Niel lebt von der Natur selbst, von der unheimlichen Wildnis des Amazonasgebiets, in dessen nördlichen Ausläufern des europäischen Staates Französisch-Guayana, der zu Frankreich gehört, aber in Südamerika liegt. Im Roman heißt die Wildnis nur „Amazonas“. Von dort kommt und mit ihm eigenartig vertraut ist der zehnjährige Darwyne. Er lebt am Rande zwischen Dschungel und Slum mit seiner strenggläubigen Mutter Yolanda und deren wechselnden Liebhabern. Sieben sind im Amazonas verschwunden, weil Darwyne sie nicht mochte. Über dem Romangeschehen hängt die Drohung, Stiefvater Nummer Acht Jhonson werde das Gleiche geschehen.
Wer oder was dieses merkwürdig verkrüppelte Kerlchen mit dem stolzen Namen Darwyne ist, bleibt offen. Während er demütig hinnimmt, von seiner Mutter als „kleines Opossum“ gequält zu werden, weil er zivilisiert weren muss und das angeblich auch verdient, erkennt Sozialpädagogin Maturine, selbst eine Liebhaberin und Kennerin des Dschungels, dass Darwyne ein Geschöpf des Dschungels ist. Erstmals erfährt er Anerkennung für seine Allvertrautheit mit Flora und Fauna im Amazonas, kann die Anerkennung seiner Naturseite in Selbstermächtigung ummünzen.
Niel ist Biologe und Anthropologe, hat in der Entwicklungshilfe gearbeitet, kennt die Lebensumstände von Flüchtlingen in Slums, das Umfeld von Darwyne, genau. In Französisch-Guayana war mit dem Aufbau des Parc amazonien de Guyane beauftragt. Vier unübersetzte Bücher von ihm handeln dort von einem schwarzen entflohenen Sklaven, der seine Ursprünge sucht. Mit DARWYNE hat Niel ein Zauberwesen der guayanischen Mythologie – Maskililli – zum Leben erweckt und so den Gegensatz zwischen Natur und Zivilisation, der in jedem Menschen steckt, auf die Thrillerspitze getrieben.
8 Anständige Leute (Personas decentes)
Leonardo Paduras Romane kreisen um das große Thema, wie es möglich ist, in einer Diktatur ein anständiges Leben zu führen. Sein Held Mario Conde ist etwa gleich alt wie der 1955 geborene Autor, ist also einer aus der „verborgenen Generation“, die nie etwas anderes erlebt hat als den Castrismus.
ANSTÄNDIGE LEUTE ist ein Roman des Rückblicks, der Trauer und des Abschieds. Der Freundeskreis Marios ist geschrumpft durch Krankheit, Tod und Exil, seine Geliebte Tamara will die Enkel in Italien besuchen. Wird sie wieder zurückkommen?
Dieser – auch altersbedingten – Melancholie stehen zwei Hoffnungs-Erzählungen gegenüber: Im Sommer 2016 kamen kurz nach einander Präsident Obama und die Rollig Stones nach Kuba, Hoffnung auf Lockerung, bessere Lebensbedingungen kam auf. Sehnsüchte, wie sie schon einmal, hundert Jahre zuvor, in Kuba aufgebrandet waren, als es schien, die nationalen Kräfte seien stark genug, das Joch der USA abzuschütteln.
Padura hat seinen Zeitzeugen Mario Conde schon immer davon träumen lassen, er werde selber einmal etwas schreiben können. Während er in der Gegenwart von 2016 durch einen Aushilfsjob bei der Polizei wieder davon abgehalten wird, schreibt sein inneres Ich die berühmte Geschichte von der Ermordung Alberto Yarinis fort. Kubas berühmtester und glanzvoller Zuhälter, der sich, beobachet und unterstützt vom fiktiven Polizisten Amargó zum demokratischen Politiker mausert und auf offener Straße niedergeschossen wird.
Auch die Hoffnungen von 2016 bersten. Der Fall, den Aushilfsermittler Conde lösen muss, hat seine Wurzeln in den 70er Jahren, als Castro und seine Camarilla die innere Repression verschärften. Kunst und Literatur wurden auf sozialistischen Realismus getrimmt. Einer der schlimmsten Zensurbürokraten und Hetzer von damals liegt jetzt kastriert in seiner Luxuswohnung, anscheinend ein Racheakt von Überlebenden.
Das zermürbende Wechselspiel zwischen Hoffnung auf Freiheit und ihrer Kastration durch engstirnige Bürokraten – das Schicksal der „verlorenen Generation“ – wird in ANSTÄNDIGE LEUTE doppelt gespiegelt. Ein großes Fazit seines Lebens, der kubanischen Geschichte und seines Lebenswerks, das Padura einem ordentlichen Schluck Rum und dem Trinkspruch beendet: „Ich scheiß auf das Restchen. Das ganze beschissene Restchen.“
Pünktlich zum Erscheinen des Romans hat de Firma Birkenstock einen dezenten Werbefilm gedreht: Wir lernen darin zu 98 Prozent den Schriftsteller und sein Havanna und zu 2 Prozent den Sandalenträger Leornardo Padura kennen. Sehenswert!
Und wo gibt es überall die KRIMIBESTENLISTE AUGUST?
Die KRIMIBESTENLISTE AUGUST ist seit Freitag, dem 2. August 2024, auf Deutschlandfunk Kultur online und kann hier als einseitiges PDF u.a. zum Aushang in Buchhandlungen heruntergeladen werden.
Kolja Mensing hat hier über die Krimibestenliste August gesprochen.
Nach und nach werden fast alle Neuerscheinungen der Krimibestenliste in Deutschlandfunk Kultur, immer am Freitag morgen gegen 8.20 Uhr, besprochen. Dort können Sie die Stimmen einiger Jurymitglieder vernehmen. Am Freitag, den 2. August habe ich über die Nummer eins der Krimibestenliste August DIE NARREN SIND AUF UNSERER SEITE gesprochen.
Kommende Rezensionen sind auf der Deutschlandfunk-Seite Rezensionen des Monats nachzuhören und zu -lesen.
Dank auch an die Redaktion von Weltexpresso, die jeden Monat nicht nur die Krimibestenliste abbildet, sondern auch die Veränderungen, und alle zehn Bücher engagiert kommentiert.
Ich wünsche Ihnen eine aufregende Lektüre und schöne Sommertage!
Ihr Tobias Gohlis