Die Krimibestenliste 2021: die zehn besten Kriminalromane des Jahres
Unter Kennern, Kritikern, Verlegern und Fans hat der Kriminalroman den Ruf, unter den literarischen Genres das einzige zu sein, das Aktualität und Realität zu vereinen vermag. Manchen gilt Kriminalliteratur gar als einzige zeitgenössische Form engagierter Literatur – oder um es internationaler zusagen: der littérature engagée.
Nimmt man die zehn besten Kriminalromane des Jahres 21, die die Jury der Krimibestenliste von Deutschlandfunk Kultur ausgesucht hat, sind an der generellen Gültigkeit dieser These Zweifel angebracht. Zugleich zeigt sich an unserer Auswahl, nimmt man Titel um Titel genauer in Augenschein, dass gute Kriminalliteratur ohne kritische ästhetisch reflektierte Haltung zur Gegenwart und ihren Themen undenkbar ist.
Als erstes fällt auf, dass fünf von zehn Romanen historisch sind: DIE EXPERTEN spielt in den 50er und 60er Jahren, TOKIO, NEUE STADT hauptsächlich in der unmittelbaren Nachkriegszeit, WIR SIND DIESER STAUB spielt 1976, DIE IDEALISTEN 1981 und WESTWIND sogar 1491. Nicht sehr aktuell.
Alle fünf unterscheiden sich in Zugriff und Schreibweise von der seit Volker Kutschers Erfolgen und der Serie Berlin Babylon grassierenden Form des historischen Heimatromans, der mit ungeheurem Fleiß jedes Jahr seit 1871 verständnisinnig auspinselt.
Merle Kröger sticht nicht nur mit ihrer geistvollen Kompilation von Dokumenten und Fiktionen ins hin und her schlagende Herz des deutsch-israelischen Verhältnisses und die Nazihaltigkeit des deutschen Wirtschaftswunders, sondern provoziert – so aktuell wie überhaupt nur denkbar – die Leser, sich eine eigene Meinung aufgrund der Widersprüchlichkeit des ausgebreiteten Materials zu bilden. Fake News? Fiktion? Wahr? Zutreffend? Realistisch?
Noch krasser fordert David Peace im Abschlussband seiner Tokio-Trilogie nicht das Einverständnis, sondern die Mitarbeit seiner Leserinnen. Ihm gelingt es, die verworrenen politischen Konflikte (durch Niederlage gedemütigter japanischer Nationalismus, Japan-Korea, drohender heißer Krieg zwischen USA und „Roten“ usf.) in den verwirrten Seelen seiner Protagonisten ihren zum Teil irren Widerhall finden zu lassen, ein postmoderner Walter Scott der Kriminalliteratur.
Dass der unbedingte Kampf um die Wahrheit Menschen zerstören kann, gehört zu den Aufklärungsschätzen des Noir. Eindrucksvoll wird dies – stilistisch gänzlich unterschiedlich – von Samantha Harvey und Viet Thanh Nguyen durchgeführt. Harvey führt Tag für Tag rückwärts erzählend in die Zeit vor der Reformation, in der, neben kaum vorstellbarem materiellem Elend, das geistige Elend grassierte: in einer Welt, in der Religion als einzige Wahrheit herrscht, haben die meist des Lesens unkundigen Menschen ausschließlich Fake News und ihre rivalisierenden Verkünder zur Orientierung.
Und Nguyen singt, orchestriert von zeitgenössischer antikolonialistischer und poststrukturalistischer Theorie, das Hohelied der Freiheit von den rivalisierenden Blockideologien, verkörpert in einem Spion, der so lange Identitäten und Lehren wechselte, bis er sich selbst beinahe verloren hat.
Plädiert Nguyen eindrucksvoll für ideologiefreies Nicht-Engagement, so können zwei andere Romane auf der Liste nur als Plädoyer für Engagement gelesen werden: Patrícia Melos GESTAPELTE FRAUEN und Elizabeth Wetmores WIR SIND DIESER STAUB.
Angesichts der massenhaften Morde an Frauen weltweit, aber besonders in Melos südamerikanischen Heimat, ist GESTAPELTE FRAUEN ein einziger gellender Auf- und Verzweiflungsschrei gegen den Femizid (der im „Macho-Land“ Italien Straftatbestand ist, nicht aber im gleichstellungsbeauftragten Deutschland, wo zwei Drittel aller Mordopfer „in Partnerschaften“ Frauen sind).
Wetmores Texas ihrer eigenen Jugendzeit könnte genauso das Texas von heute sein, in dem die Denunziation von Abtreibung Gesetz geworden ist. Doch das damals noch offenere Brodeln männlicher Gewalt gegen Frauen erlaubt ihr, nicht nur die toxische Kultur männlicher Gewalt zu zeigen, sondern auch, wie man sie hinter sich lassen kann: wahrhaftig, aber nur unter Schmerzen. Engagiert sind sie alle drei, und Literatur dazu.
Aber selbst dort, wo das Krimigeschehen verpackt ist in einen in Irland spielenden süffigen Fremder-kommt-ins-Dorf-Western kommt Tana French in DER SUCHER nicht umhin, im Hintergrund Geschlechterfrage und sexuellen Missbrauch anklingen zu lassen.
Und Ökologie, das Salongesprächsthema der Gegenwart schlechthin, wird in den Romanen des Naturwissenschaftlers Colin Niel plastisch geerdet: auf den kalten Höhen französischer Berge, wo einsame Menschen und Tierarten sich durchschlagen müssen, und auf dem afrikanischen Kontinent, wo die jungen Opfer der globalen ökologischen Katastrophe danach streben, so zu leben, wie die Gesellschaften ihrer Verursacher. Niel: mit UNTER TIEREN sicher eine Autorenentdeckung des Jahres.
Sogar Wyatt, klassischer Verbrecher ohne Smartphone, kommt in Garry Dishers MODER an den Globalisierungsgewinnern nicht vorbei und gibt ihnen ordentlich eins mit, pars pro toto.
Eine Autorenentdeckung (im Krimi) ist auch Johannes Groschupf zu nennen, zeigt er doch der gutwilligen, gemäßigten Mittelklasse des deutschsprachigen „kritischen“ Kriminalromans in BERLIN HEAT, wie man die Braunen literarisch dekuvrieren kann: Mit Rückgriff auf die Tradition der Schelmenliteratur, mit bissigem Witz, scharfer Beobachtungsgabe und der Bereitschaft, sich den Shitstorms zu stellen.
Eine, wie ich finde, überaus anregende Liste, fifty-fifty weiblich männlich besetzt. Große Literatur, auch wenn die eine oder andere meiner pointierten Verallgemeinerungen etwas streng oder abstrakt klingen mag.
Die Krimibestenliste 2021 wurde von der Jury von Deutschlandfunk Kultur aus den 62 Kriminalromanen ausgesiebt, die 2021 Monat für Monat auf der Bestenliste standen. Ein ausdruckbares PDF können Sie herunterladen. Wir danken allen, die auf diese Liste verweisen oder sie sogar abdrucken.
Beleiben Sie uns gewogen, lesen Sie weiter!
Ich wünsche Ihnen ein gutes, friedliches 2022.
Hamburg, im Dezember 2021
Ihr Tobias Gohlis