Die Krimibestenliste im Juli: vergangenes Aktuelles und aktuelles Vergangenes
Dass der Mensch ein Tier ist, ist auch den Krimi-Autoren nicht verborgen geblieben. Dass aber die Krimibestenliste Juli quasi von Tieranalogien überfrachtet scheint, ist einer vorübergehenden Laune der Jury und dem aktuellen Angebot zu verdanken. Zum vierten Mal ist unsere große Entdeckung Colin Niel mit seinem famosen NUR DIE TIERE dabei; neu dazu gekommen ist Anne Goldmann mit ihrem Wiener Vorstadt-Drama ALLE KLEINEN TIERE, das in Milieu und Verzweiflung, aber nicht in Skepsis und Bissigkeit an Ödön von Horvaths Anti-Volksstücke erinnert. Dass sich in Wien aber auch gar nichts bessert!
Entschieden von der Sehnsucht nach einer besseren Welt durchdrungen, aber geprägt vom Zweifel, je einen Weg dorthin finden zu können, sind die beiden neuen Titel aus US-amerikanischer Feder.
Alexis Schaitkin lädt in ihrem Debütroman SAINT X dem mysteriösen Tod einer 18-Jährigen auf einer fiktiven karibischen Insel ein ganzes Konvolut von Missständen auf, die unmöglich alle von der Polizei gelöst werden können. Weshalb diese den Fall – allzu schnell? – ad acta legt, was ihn, infolge u.a. der Verwicklung eines abgehalfterten Schauspielers zur Sensation von True-Crime-Serien macht. Die elf Jahre jüngere Schwester Claire – Lektoratsassistentin in einem Publikumsverlag mit Krimis, was uns einige oberflächliche Bemerkungen zur Genreproduktion vermittelt, wobei Schaitkin/Claire überhaupt mit Bemerkungen zu allem möglichen nicht geizen – verwickelt sich obsessiv in die Suche nach der Wahrheit. Befeuert wird die Suche durch die persönliche Lebens-Unsicherheit eines Mädchens bester education aus wohlhabendem Hause, das das Stalking eines New Yorker Taxifahrers zur Erforschung der unteren sozialen Schichten und der Lebensbedingungen von People of Colour nutzt. Dieser Taxifahrer war auf Saint X einer der beiden miteinander befreundeten Hotelbediensteten, die hinter den reichen weißen Mädchen her waren und eine Zeit lang als Mörder verdächtigt wurden.
Die aus Nigeria stammende Autorin Oyinkan Braithwaite besprach SAINT X in der New York Times als „acute social commentary on everything from class and race to familial bonds and community“. Mir wurde das „everything“ entschieden zu viel, und am wahrhaftigsten in dieser Selbstbespiegelung großer amerikanischer Mittelstandsleere kam mir dieser Satz gegen Schluss vor: „Warum sollte irgendjemand so eine traurige, sinnlose Geschichte akzeptieren, eine Geschichte, die nicht mal zur Abschreckung dienen konnte, sondern einfach nur tragisch und bitter war?“ Aber das fragt Claire, die sich sowieso sehr bemüht, als unzuverlässig zu gelten.
Da ist der 1971 in Vietnam geborene, als Kind in die USA geflüchtete Viet Thanh Nguyen schon ein anderes Kaliber: Leid, Wut, Empörung und daraus geborene groteske Komik tropfen aus jeder Zeile des Folgeromans zu seinem mit dem Pulitzerpreis ausgezeichneten Roman „Der Sympathisant“ von 2016: DIE IDEALISTEN.
Schon der Titel (engl.: The Committed) spricht dem Idealismus aller Ismen Hohn, und letztlich sogar dem in ideologisch verseuchten Gegenden vielleicht einzig denkbaren Idealismus, dem der Freundschaft. Wo in Leonardo Paduras Havanna-Krimis der Ex-Polizist Mario Conde immer noch Trost im auch von Verrat bedrohten, aber niemals völlig zerbrechenden Kreis der Jugendfreunde findet, beruht in DIE IDEALISTEN die Freundschaft der drei Blutsbrüder Bon, Man und des namenlosen Ich-Erzählers von vornherein auf Täuschung: Kommunistenhasser Bon weiß weder, dass Man und der Ich-Erzähler verdeckt operierende Kommunisten sind, noch dass der Folterkommissar mit der weißen Maske, den er in Paris um jeden Preis töten will, sein Blutsbruder Man ist. Die Perspektive der Erzählung, die sich wie schon der erste Roman, als Geständnis „eines Selbstmörders“ entpuppt, ist die des namenlosen Ich, ist die Fiktion einer Realität, die von einem Mann mit zwei Löchern im Kopf, zwei Ichs (einem lachenden und einem weinenden) und einem Chor von Toten im Kopf erzählt wird.
„Vo Danh“ – deutsch: „Anonym“ – steht in dem Pass, mit der ehemalige kommunistische Agent, dann Doppelspion der CIA, aus Vietnam über die USA nach Paris eingereist ist. „Der verrückte Bastard“ nennen sie ihn, weil sein Vater französischer Priester war, aber auch, weil er nur dadurch seine Freiheit gewinnt, indem er immer das Unerwartete tut, auch als er in die Umtriebe rivalisierender Drogenbanden schlittert, die natürlich die am meisten linken, am meisten maoistischen Intellektuellen der Gauche Caviar beliefern. Actionszenen wechseln mit großen ausgefeilten Auseinandersetzungen mit den postkolonialen Klassikern ab (DIE IDEALISTEN spielt 1981).
Das Großartige ist, dass es Nguyen gelingt, die persönliche Entwicklung seines Antihelden, der „nichts glaubt“, erzählerisch glaubhaft zu machen: Die das 20. Jahrhundert beherrschende Frage Lenins „Was tun?“ überwindet er durch Nichts tun. Wem die Apologie des Nichtstuns (urchristlich wie urbuddhistisch) zu plakativ erscheint, sollte erst recht diesen grandiosen Roman lesen, dem es gelingt, manchmal weitschweifig, aber nie ohne Witz und Schärfe, Nichtstun als Antwort auf Kolonialismus, Rassismus und Imperialismus zu beglaubigen. Auch wenn er zugleich davon überzeugt ist, dass Frantz Fanon recht hat, der denkt, die Gewalt, die dem Kolonisierten angetan wurde, könne nur durch Gewalt gegen die Kolonisatoren gelöscht und geheilt werden.
Nur kurz der Hinweis auf eine Entdeckung, die Martin Compart zu verdanken ist: John Mairs ES GIBT KEINE WIEDERKEHR ist 1941 erschienen, der begabte Autor verunglückte bei einem Übungsflug der britischen Air Force tödlich. Ähnliches Engagement käme dem Antihelden des Romans, Desmond Thane, niemals in den Sinn. Nachdem er aus allen verlassenen Machos höchst nachvollziehbaren Motiven seine Geliebte umgebracht hat, bekommt er es mit deren Auftraggebern, einer nihilistischen, die damaligen Blöcke übergreifenden Verschwörung von „Entrechteten“ zu tun, vor denen er seine zarte Haut trickreich retten muss. Nicht weltbewegend, aber ein nach 80 Jahren erstaunlich frisches Blümchen im Bukett der Politthriller.
Die Krimibestenliste Juni ist seit Freitag, dem 4.Mai, bei Deutschlandfunk Kultur online und kann hier als PDF heruntergeladen werden.
Außerdem finden Sie die aktuelle Krimibestenliste im crimemag. Dank auch an die Redaktion von Weltexpresso, die jeden Monat nicht nur die Krimibestenliste abbildet, sondern auch die Veränderungen und oft auch einzelne Bücher engagiert kommentiert. Und bereits am Freitag morgen hat Sonja Hartl den höchsten Neueinstieg in der Juliliste im Deutschlandfunk besprochen: Alexis Schaitkins SAINT X.
Ich wünsche Ihnen viel Vergnügen!
Ihr Tobias Gohlis