DIE KRIMIBESTENLISTE IM AUGUST: 5 Neue aus vier Ländern: Schweden, Deutschland, Ukraine, USA
Angesichts des Großverbrechens Angriffskrieg, das Putin begeht, möchte man über Krimis schweigen.
In UNTER DEM STURM (2021) ließ Christoffer Carlsson Vidar Jörgensson, einst Polizist, dann Bodenpersonal am Flughafen, sich in die Suche nach dem Mörder von Lovisa verrennen. Im Folgeroman WAS ANS LICHT KOMMT sind es zwei Jörgenssons, Vater Sven und Sohn Vidar, die sich noch deutlicher verrennen. 1986 wird Stina Franzén vergewaltigt und umgebracht. Keine Spur vom Täter, bis dieser anonym auf der Wache anruft und dem sowieso schon hoch motivierten Sven erklärt: „Ich werde es wieder tun.“ Eine weitere junge Frau verschwindet, ihre vermutete Leiche wird vergeblich gesucht, dann bricht die angekündigte Serie ab. Sven, lungenkrank, ermittelt bis zum letzten Atemzug, Sohn Vidar übernimmt Job und Obsession.
War das Leitmotiv in UNTER DEM STURM die zerstörerisch kriminelle Gewalt der Gesellschaft, ist es in WAS ANS LICHT KOMMT der Zeitenbruch: Am selben Tag wie Stina wird in Stockholm Olof Palme ermordet. Die sozialdemokratische Ära des Volksheims war endgültig am Ende.
Carlsson hat diesmal einen Ich-Erzähler eingebaut, einen erfolgreichen, aber trennungskranken Schriftsteller aus der Familie „Carlsson“, der im Schreiben über den Fall Franzén und in seiner Verehrung für den scheinbar felsensicheren Sven Jörgensson die Chance erkennt, über einen True-Crime-Krimi in die vor 16 Jahren verlassene Heimat Halland zurückzufinden. Das Geschehen spielt auf der „Bühne“ seines Romans, in dem der Schriftsteller konsequent selbst zum Ermittler wird und zugleich die Sinnlosigkeit des Ermittelns offenbart. Als Kriminologe geht an die Unwägbarkeiten des Wissens über Kriminalität, als Schriftsteller hinterfragt er die Sinnhaftigkeit dieses Wissens. Mit der Verlegung des Schauplatzes nach Halland, wo er selbst aufgewachsen ist, hat Carlsson einen neuen ländlichen Hotspot der schwedischen Kriminalliteratur und eine neue, radikale Version von kritischer Heimat- und Regionalliteratur geschaffen. In meinem Beitrag bei Deutschlandfunk Kultur habe ich deshalb gesagt:
„Mir ist seit dem Debüt von Arne Dahl 2002 mit MISTERIOSO kein derart klug gearbeiteter und soziologisch weiser Krimi aus Schweden mehr vor die Kritikerbrille gekommen.“
Über Max Annas‘ Projekt MORDUNTERSUCHUNGSKOMMISSION könnte ich stundenlang schreiben: Ich belasse es dabei, dass er im dritten Band DER FALL DANIELA NITSCHKE wieder einer heiligen Kuh des unbefleckten DDR-Selbstbildes zu Leibe rückt: der internationalen Solidarität mit dem Befreiungskampf des ANC gegen das Apartheidsregime in Südafrika. Annas recherchiert und schreibt einfach großartig, diesmal auch einige Seiten über Jazz, die fast so viel Vergnügen machen, wie diesen zu hören.
Der russisch schreibende Ukrainer Andreij Kurkow nutzt eine spezielle Mischung aus surrealem Krimi und Märchen, um gesellschaftlichen Umbrüchen auf den Unsinn zu kommen. Seine Romane PICKNICK AUF DEM EIS und PINGUINE FRIEREN NICHT erzählten von einem Schriftsteller, der einen herzkranken Pinguin vor tödlicher Hitze, vor der russischen Mafia und der russischen Armee in Tschetschenien zu retten versucht. Jetzt lässt er in SAMSON UND NADJESCHDA ein romantisches Paar in Kiew im Geburtsjahr der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik 1919 Agatha-Christie-kauzige Kriminalfälle ermitteln. Samson haben Kosaken bei der Ermordung seines Vaters ein Ohr abgeschlagen, nun hört er durch Wände. Nadjeschda ist der personifizierte Fortschrittsoptimismus, dem auch plündernde Rotarmisten nichts anhaben können.
Kurkow hat das Buch 2019 vor dem Angriff Russlands auf die Ukraine fertiggestellt. Verblüffend sind die Parallelen: Obwohl die Roten hier noch eher die Guten sind, benehmen sie sich bereits wie die Soldateska der heutigen Eroberer. Die Parallelen und leider nicht die Kriminalfälle, die Samson löst, machen die Geschichtslektion interessant; man darf auf die kommenden Folgen gespannt sein, angeblich sollen es vier werden.
Peter Farris‘ LETZTER AUFRUF FÜR DIE ÜBERLEBENDEN ist ein in Ekstasen von Horror und Gewalt gesteigerter Hinterwäldler-Roman aus dem nördlichen Georgia, der zwiespältige Reaktionen hervorruft. Hanspeter Eggenberger: „ein ganz außergewöhnlicher und aufregender Roman. Dicht, komplex, packend, voller spektakulärer Szenen, düster, aber auch mit Humor. Mit faszinierenden Hauptfiguren, dem Bankräuber und der Geisel, zwischen denen sich eine seltsame Beziehung entwickelt.“ Mir erschließt sich das alles nicht, zu krass fallen Action, Gewalt und Blutorgien aus einem denkbaren Sinnhorizont: Farris übertreibt gewaltig.
Wie Übertreibung oder auch Grenzüberschreitung plausibel werden können, zeigt Jonathan Moore in POISON ARTIST. Caleb Maddox, Toxikologe und Schmerzforscher mit genialischen Zügen, hat die Neigung, sich in Gemälden zu verlieren. In der San Francisco Bay treiben Leichen auf, die über die Grenze des Ertragbaren gefoltert worden sind. Pharmaka haben noch ihre Qualen gesteigert. Caleb soll sie untersuchen, verfällt aber der Anziehung einer Lady in Black, die von Absinth, dem grünen Getränk der opiumessenden Träumer des 19. Jahrhunderts, und von unergründlichen Geheimnissen zu leben scheint. Caleb folgt ihr in einen Abgrund aus Träumen, Erinnerungen und Verletzungen, von dem immer weniger klar ist, wie und in welcher Realität er verankert ist.
Moore ist da ein feines spätromantisches Noir-Abenteuer in der uramerikanischen Tradition Edgar Allan Poes gelungen, in das man sich verrennen kann. Ganz sanft, Tropfen um Absinthtropfen, nebelt er seine Leser ein, bis sie selber nicht mehr wissen, ist die Frau Wirklichkeit, Calebs Phantasie oder diesem Gemälde John Singer Sargents entsprungen:
Die Krimibestenliste August ist seit Freitag, dem 5.August, bei Deutschlandfunk Kultur online und kann hier als PDF heruntergeladen werden.
Dank auch an die Redaktion von Weltexpresso, die jeden Monat nicht nur die Krimibestenliste abbildet, sondern auch die Veränderungen und oft auch einzelne Bücher engagiert kommentiert.
Bereits am Freitag, den 5.August, ist mein Beitrag über Platz 1 der August-Liste WAS ANS LICHT KOMMT von Christoffer Carlsson in Deutschlandfunk Kultur veröffentlicht worden
Ich wünsche Ihnen eine aufregende Lektüre und schöne Sommertage!
Ihr Tobias Gohlis