Fünf neue Titel: zwei aus Frankreich, je einer aus Deutschland, Irland und Taiwan. Die Schauplätze: Saint Vincent, Ardèche, Rostock, Hohen Sprenz, Philadelphia, Lake Champlain, Vermont, Taipeh, Okzitanien.
Angesichts des Großverbrechens Angriffskrieg, das Putin begeht, möchte man über Krimis schweigen. Seit zwei Jahren und neun Monaten.
Neu auf Platz Eins im November:
1 Zu nah am Abgrund (Trop près du bord)
Es wird ein ewiges Rätsel der deutschsprachigen Verlagsgeschichte bleiben, warum der in Frankreich zu Recht berühmte Noir-Autor Pascal Garnier (1949 – 2010) erst sterben musste, bevor der kleine Wiener Verlag Septime ihn in sein Suspense-Programm aufnahm und Felix Mayer ihn ins Deutsche übersetzte. Sei es, wie es sei: Jeder der seit 2023 dort bisher erschienenen drei Romane Garniers (DER BEIFAHRER, AN DER A26 und jetzt ZU NAH AM ABGRUND) wurde begeistert aufgenommen und landete auf der Krimibestenliste.
(Nur ein anderer Roman – DAS SCHICKSAL IST EIN PANDABÄR – wurde 2012 ebenfalls posthum auf Deutsch bei btb veröffentlicht.) Garnier begann mit 35 zu schreiben,
„gut sechzig Bücher“ wurden es bis zu seinem Tod, Jugendbücher, Erwachsenenbücher, Noirs. Zum Schreiben hatte er sich nach Cornas zurückgezogen, etwa 90 Autobahnkilometer von jenem Saint Vincent entfernt, wo das Drama Éliettes in ZU NAH AM ABGBRUND seinen Ausgang nimmt.
Éliette ist 64, ihr Mann, mit dem sie den Bauernhof zum Alterssitz ausgebaut hat, ist verstorben. Die nächsten Nachbarn sind ein Stück weit entfernt, Aufregungen – und Sex – ebenfalls. Sie gurkt ohne Führerschein mit einem Moped-Auto der Marke Aixam (nie gehört) – „das neuste Modell“ – herum und gabelt im Regen einen netten Vierzigjährigen namen Étienne auf, nass mit Anzug und schwarzer Reisetasche. Étienne ist nützlich, liebenswürdig und freundlich, bald landen sie im Bett, Éliettes „ewige Ferien“ entwickeln sich prächtig. Bis Étiennes Tochter (und wie sich herausstellt: Geliebte) Agnès auftaucht, auf der Suche nach dem in der schwarzen Tasche versteckten Koks, das Étienne eigentlich hätte irgendwo abliefern müssen. Von da an wird es turbulent, Éliette nimmt Teil an den Abenteuern der beiden unterschiedlichen Drogenkuriere – ach lesen Sie selbst.
Sprachlich gefällt mir ZU NAH AM ABGRUND sehr. In diesem, seinem vierten, Roman scheint Garnier seinen Sound Gefunden zu haben: seine Prosa ist geschmückt mit kleinen Aperçus und signifikanten Wortspielen (das Leben als „Bulimie“, ein Vergewaltiger „streichelte mit dem Zeigefinger den klitorisartigen Abzug seines Gewehrs“), entwickelt sich schön langsam aus der Seniorenidylle zum tödlichen Ende.
Thomas Wörtches Rezension vom 1.11.24 finden Sie hier.
Außerdem neu auf der Krimibestenliste
November:
5 Finsteres Herz
Holger Karsten Schmidt (*1965) ist ein sehr erfolgreicher TV-Drehbuchautor („Nord bei Nordwest“, „Harter Brocken“, „Lost in Fuseta“)der hin und wieder Romane zu seinen Serienverfilmungen schreibt. DIE TOTEN VON MARNOW von 2020 wurde 2021 verfilmt, und auch vom Folgeroman FINSTERES HERZ steht bereits der Serien-Sendetermin fest.
Dass Drehbuchautoren beim Romaneschreiben den Spruch Billy Wilders „Man beginne mit einer Explosion, und dann ganz langsam steigern“ beherzigen, wissen wir seit Andreas Pflügers WIE STERBEN GEHT. Schmidt startet mit einem Massaker, in dem als Polizisten verkleidete Gangster ein Safe House in der Nähe von Rostock überfallen. In dem Schusswechsel werden fast alle Polizisten getötet, die das bulgarische Waisenkind Sarah bewachen. Auch die beiden Serienhelden Schmidts Lona Mendt und Frank Elling werden lebensgefährlich verwundet und liegen im Koma, als die eigentliche Handlung einsetzt. Sarah kann fliehen, und setzt, beschützt vom Geist ihrer älteren Schwester, ihren ganzen Straßenkindwitz ein, um den bulgarischen Menschenhändlern, die hinter ihr her sind, zu entkommen.
Staatsanwalt Rost, der die Ermittlungen leitet, vermutet, dass es ein Leck in der Polizei gibt. Er spielt deshalb die beiden Mitglieder des Ersatz-Teams für Mendt/Elling gegeneinander aus. Die beiden, wieder Mann und Frau, und deshalb auch schwer von den beiden anderen zu unterscheiden, müssen praktisch von vorne ermitteln, da ihre Vorgänger alle Daten zum Fall vernichtet haben. Schmidt erzählt auf drei Ebenen: von Flucht und Verfolgung Sarahs, von den ersten Ermittlungen Ellings und Lendts und von den zweiten, die nach dem Überfall auf das Safe House einsetzen. Manchmal wirkt das auf die Leserin wie ein Hütchenspiel: Wer macht jetzt gerade was? Ist aber extrem spannend.
6 Sag mir, was ich bin (Tell Me what I am)
Der Titel ist ein Zitat aus Shakespeares Drama DER STURM. In Una Mannions SAG MIR, WAS ICH BIN
muss Ruby ausgerechnet die Rolle der Miranda übernehmen. Miranda beklagt sich bei ihrem Vater Prospero, der sie auf einer einsamen Insel festhält:
You have often
Begun to tell me what I am, but stopp’d
And left me to a bootless inquisition,
concluding, “Stay: not yet.”
Ruby wurde von ihrem Vater Lucas als Kleinkind aus ihrer mütterlichen Familie in Philadelphia gerissen und auf einer abgelegenen Insel im Lake Champlain (Vermont) von ihm einsam aufgezogen. Sein Ziel: sie in allen ihren Regungen zu kontrollieren und sie alle Erinnerungen an ihre Mutter vergessen zu lassen, die spurlos verschwunden ist, als Ruby vier war. Kein Wunder, dass ihr beim Rezitieren die Stimme bricht, ist sie doch in einer Situation, die der Mirandas gleicht.
Grant Wood: American Gothic, 1930, Art Institute of Chicago.
So kann man sich Rubys Umgebung in Vermont vorstellen. Una Mannion zitiert das Bild in einer Textpassage, die Rubys Tante Nessa gewidmet ist.
Die Lage, in der Ruby aufwächst, ist geprägt von leisem Terror: Jeder Schritt, den sie tut, wird von ihrem Vater überwacht, auch ihr Handy, als sie älter wird. Ihre Abschottung wird nur durchbrochen, weil ihre Tante Nessa, die Schwester ihrer Mutter, sie nicht aufgeben will und all ihr Vermögen den Schutz ihrer Nichte durch Privatdetektive in 400 Kilometern Entfernung steckt.
Una Mannion berichtet, dass ihr die Idee zu SAG MIR, WAS ICH BIN tatsächlich gekommen ist, als sie „The Tempest“ unterrichtete. Daraus ist aber keine akademische Shakespeare-Interpretation gewoden, sondern ein spannendes, psychologisch einfühlsames wie verstörendes Stück feinster Literatur über puritanischen mänlichen Chauvinismus, menschliche Widerstandsfähigkeit und unzerstörbare Liebe.
9 Das Parfüm des Todes ( 成為怪物以前 – Bevor wir Monster wurden)
Es ist nicht gerade häufig, dass Kriminalromane aus Taiwan, und dazu noch Debüts, hierzulande veröffentlicht werden. Deshalb war Katniss Hsiao Teil der kleinen taiwanesischen Delegation auf der Frankfurter Buchmesse, kurz nachdem DAS PARFÜM DES TODES erschienen war. Einen Tag später war ein Foto von ihr mit ihrem Herausgeber Thomas Wörtche in der taiwanesischen Presse zu sehen.
„Das Parfüm meets Das Schweigen der Lämmer“ – dem Klappentext ist nicht viel hinzuzufügen. Die Geschichte der 28-jährigen Tatortreinigerin Yang Ning, die nach dem Tod ihres Bruders ihren feinen Geruchssinn verloren hat, nur noch etwas empfindet, wenn sie Leichengeruch wahrnimmt, und deshalb in die Schule eines Serienmörders gehen muss, ähnelt sehr stark den literarischen Vorbildern. Dass Ning selbst einen (Serien-) Mörder finden muss, um sich vom Tatverdacht zu befreien, nachdem sie unfreiwillig alle Tatspuren beseitigt hat, ist auch nicht gerade selten.
Katniss Hsiao legt in ihrem Nachwort offen, dass das Schreiben dieses Romans eine Befreiungsaktion war aus persönlichen seelischen Zwängen. Dass diese sich in Leichengerüchen, madenbesetzten Tatorten und Serienmördern manifestieren, legt nahe, dass sie unerträglich waren. Krimi als Erlösung – selten wurde dieses Versprechen so drastisch eingelöst.
Karin Betz hat ihrer hervorragenden Übersetzung noch Anmerkungen zur Aussprache und Transkription des taiwanesischen Chinesisch beigefügt. Darin erklärt sie auch, dass der chinesische Name der Autorin je nach Transkription Hsiao Wei-hsuan oder Xiao Wei-xuan lautet, wobei Hsiao der vorangestellte Nachname ist. Die Autorin benutzt, wie viele Taiwanesen, einen selbstgewählten englischen Vornamen: Katniss.
10 Der Freund (L’Ami)
Tiffany Tavernier ist die Tochter der Drehbuchautorin Colo Tavernier (1942–2020) und des Filmregisseurs Bertrand Tavernier (1941–2021) und ist selbst in Frankreich bekannte Verfasserin von Drehbüchern und Romanen.
DER FREUND ist ihr Debüt in deutscher Sprache, entdeckt von einem anderen kleinen Verlag: Lenos. Der arbeitet nicht wie Septime in Wien, sondern im schweizerischen Basel.
Auch DER FREUND erzählt von einer Befreiung. Thierry und Guy sind mitsamt ihren Ehefrauen Nachbarn, hausen abgelegen, wie es dem Naturell der beiden Männer entspricht, einsam auf dem Lande. Ein nachbarschaftliches Idyll: die Männer angeln gemeinsam, basteln und handwerkeln einträchtig, die Frauen tauschen Kuchen und Rezepte. Bis eines Tages schwerbewaffnet die Polizei anrückt und Kumpel Guy als den lange gesuchten Mädchen- und Frauenmörder verhaftet, der seine Opfer in seinem Bastelkeller und seiner Datsche gequält und ermordet hat.
Der Einzelgänger Thierry muss erkennen, dass der Serienmörder sein einziger Freund ist und er ihm vermutlich sogar unwissentlich geholfen hat. Sein Hass und Selbsthass wachsen ins Grenzenlose, als seine Frau ihn und das Haus, das er für sie beide gebaut hat, verlässt. Thierry steckt, das begreift er qualvoll, in einem seelischen Panzer, und der ähnelt dem, der Guy zum Mörder werden ließ. Taverniers Psychothriller findet einen erstaunlichen Weg aus der toxischen männlichen Gewalt.
Und wo gibt es überall die KRIMIBESTENLISTE NOVEMBER?
Die KRIMIBESTENLISTE NOVEMBER ist seit Freitag, dem 1. November 2024, auf Deutschlandfunk Kultur online und kann hier als einseitiges PDF u.a. zum Aushang in Buchhandlungen heruntergeladen werden.
Kolja Mensing hat hier über die Krimibestenliste November gesprochen.
Nach und nach werden fast alle Neuerscheinungen der Krimibestenliste in Deutschlandfunk
Kultur, immer am Freitag morgen gegen 8.20 Uhr, besprochen. Dort können Sie die Stimmen einiger Jurymitglieder vernehmen.
Am Freitag, den 4. November, hat Thomas Wörtche (nicht in der Jury) über die Nummer eins der Krimibestenliste November ZU NAH AM ABGRUND gesprochen.
Kommende Rezensionen zu den Krimis der Bestenliste wie auch zu anderen Büchern sind auf der Deutschlandfunk-Seite Rezensionen des Monats nachzuhören und zu -lesen. Auf dieser Seite finden Sie eine bescheidene unterstrichene Zeile. Dahinter verbirgt sich der Link, der Sie direkt auf das PDF der aktuellen Krimibestenliste leitet.
Das CulturMag präsentiert ebenfalls die Krimibestenliste November nebst hochinteressanten Rezensionen, nicht nur zu den Titeln der Krimibestenliste.
Dank auch an die Redaktion von Weltexpresso, die jeden Monat nicht nur die Krimibestenliste abbildet, und alle zehn Bücher engagiert kommentiert.
Ich wünsche Ihnen eine aufregende Lektüre und schöne Herbsttage!
Ihr Tobias Gohlis