Vier Neue: einer aus den USA, einer von den Philippinen, je einer aus Neuseeland und Schottland. Die Schauplätze: Hollywood, Las Vegas, Manila, „Paez“, West Coast Neuseeland, Edinburgh, Frankreich, London.
Angesichts des Großverbrechens Angriffskrieg, das Putin begeht, möchte man über Krimis schweigen.
Platz Eins im Juni:
2 City of Dreams
In zweiten Band seiner Trilogie vor dem geplanten Abschied in den Politischen Aktivismus gegen Trump und Konsorten CITY OF DREAMS folgt Don Winslow seinem Vorbild, der Äneis des Vergil.
Allerdings wird bei Winslow Hollywood nicht Rom, aber wer will, kann den Parallelen nachforschen. Was mir persönlich mehr Spaß gemacht hat als den schwer zu verifizierenden Äneis-Zitaten aus ungeklärten Quellen – internetbasierte Bildungshuberei – nachzusteigen, war die Wiederauffrischung des kalifornischen Stils, den wir aus Winslows SAVAGES und KINGS OF COOL kennen. Seine Westküstentonlage gefällt mir entschieden besser. Hier der Text meines Rundfunkbeitrags vom 2. Juni.
7 Last Call Manila (Soledad’s Sister)
Das ist eine Preziose: Meines Erachtens ist LAST CALL MANILA von Jose Dalisay der erste Kriminalroman eines Philippinischen Autors oder einer Autorin, der ins Deutsche übersetzt wurde (Korrekturen werden dankend genommen). Jose Dalisay, geboren1954, ist ein auf den Philippinen und darüber hinaus weithin anerkannter Autor, Theatermann und Herausgeber (unter anderem einer zehnbändigen Geschichte der Philippinen). LAST CALL MANILA ist 2008 erschienen und war bereits im Jahr zuvor für die asiatische Variante des Man Booker Prize nominiert.
Eine 11. Schulklasse in Paranaque las und diskutierte über das Buch, Aleiza Marielle A. Villena kam zu dem Schluss:
„Soledad’s sister is like an eye opener to us Filipinos because it was mentioned there that Filipinos take risks to work in other countries in exchange of their own safety and life in order for them to have enough money for their family to use in their everyday lives.“
Abgesehen von diesen eher lebenspraktischen Einsichten vermittelt LAST CALL MANILA den europäischen Leserinnen einen verstörenden Einblick in die Zwänge der OFW (Overseas Filipino Workers). Paradigmatisch steht für ihr Schicksal die Soledad des Originaltitels: in Hongkong vergewaltigt, als Mutter eines unehelichen Kindes diskriminiert und in Saudi-Arabien ermordet. Soledad bedeutet Einsamkeit, und das Ausmaß der darin enthaltenen Entfremdung wird nicht zuletzt dadurch deutlich, dass Soledad nicht einmal unter ihrem richtigen Namen als Leichnam in die Heimat zurückkehrt, die sie verlassen musste, um ihr Kind und ihre Schwester zu ernähren. Dalisay verpackt diese kruden Fakten in einem Kriminalroman, der vieles nicht erklärt oder auflöst, sondern als opake, schreckliche Realität eines Lebenskampfes schildert.
LAST CALL MANILA zeigt einmal mehr, welche Schätze in den Literaturen abroad schlummern und gehoben werden können. Weshalb die Übersetzung verdienstvoll gefördert wurde von Litprom e.V., einer der wichtigsten Brücken des deutschen Literaturbetriebs in die Kulturen des globalen Südens.
9 Kerbholz (The Tally Stick)
Dieser Tage werden vier indigene Kinder, die einen Absturz ihres Flugzeugs im kolumbianischen Urwald vermutlich überlebt haben – alle Erwachsenen sind umgekommen – gesucht, bisher (1.6.23) vergeblich.
Einen ganz ähnlichen, aber erfundenen Fall aus dem Jahr 1978 schildert Carl Nixon in KERBHOLZ.
Die englische Familie Chamberlain unternimmt, bevor der Papa seinen neuen Job in Neuseeland antritt, eine Autotour in die wilde alpine Landschaft der Westküste Südinsel. Bei Sturm und Regen kommt der Mietwagen von der Straße ab und stürzt in eine unwegsame Schlucht. Vater, Mutter und das Baby sind sofort tot. Die drei älteren Kinder Katherine (12), Maurice (14) und Tommy (7) überleben; Tommy mit Schädeltrauma, Maurice mit gebrochenem Knöchel. Erstmal. Drei Tage ohne Nahrung, bei Frühjahrskälte. Dann werden die Kinder doch gefunden, von einem verwilderten Hinterwäldler, der sie auf seine einsame Farm mit angeschlossener Hanfplantage mitnimmt. Dort geraten sie in die Fürsorge seiner schwer kranken, praktisch unbeweglichen Frau mit mütterlichen Anwandlungen und Kräuterkenntnissen. Nachdem sie einigermaßen gesund geworden sind, präsentieren Martha und Peters den Kindern ein Kerbholz, einen mittelalterlichen tally stick, dessen Kerben anzeigen, wie hoch ihre für Versorgung, Unterkunft und Kräutermedizin aufgelaufenen Schulden sind, die sie abarbeiten müssen. Da niemand weiß, für welche Maße die Kerben stehen, heißt das: Die Kinder sind Arbeitssklaven auf Lebenszeit ihrer Retter.
Parallel suchen die Polizei und die Verwandten aus London, besonders ihre Tante, mehrere Jahre lang nach den Verschollenen. Als schließlich 2010, 32 Jahre nach dem Unfall das Skelett des vermutlich 18 bis 20 Jahre alt gewordenen Maurice doch noch gefunden wird, bleibt nur noch das Rätsel: Wie haben die Kinder überlebt, warum ist nur eines gefunden worden? Davon erzählt Carl Nixon, der auch in seinen anderen, auf Deutsch erschienen Romanen ROCKING HORSE ROAD (2012) und SETTLER CREEK (2013) durch die Verwicklung von Familienbindungen, Überleben und Natur fasziniert hat, auf eine überraschende, zwischen Erschrecken, Wut, Hass und Zuneigung changierende Geschichte, die Sie unbedingt lesen sollten. Ein Lob auf ROCKING HORSE ROAD finden Sie hier.
CulturBooks, das die ersten beiden Bände als E-Books in Lizenz veröffentlicht hat, hat Nixons drittes prunkvoll gebunden mit Lesebändchen herausgebracht.
10 Das Erbe von Solomon Farthing (The Inheritance of Solomon Farthing)
In ihrem zweiten Roman – nach DIE ANDERE MRS. WALKER (2016/2022) – intensiviert Mary Paulson-Ellis das erprobte Verfahren. Über hundert Jahre mit vielen Zwischenstationen und unverhofften Ereignissen und Personenverknüpfungen patchworkt sie in DAS ERBE VON SOLOMON FARTHING eine, zwei oder viele Geschichten.
Im Zentrum, auf der Gegenwartsseite des Romans, sucht Solomon Farthing – Erbensucher, offensichtlich ein Edinburgher Erwerbszweig – Nachfahren des im Pflegeheim verstorbenen Thomas Methven. In dessen Sterbeanzug, offensichtlich vorgesehen, mit dem toten Veteran verbrannt zu werden, sind 50.000 Pfund eingenäht, von denen, je nach Verhandlungsglück etliche Prozent demjenigen zustehen, der als Erster Erben ausfindig macht, bevor die Knete dem Staat zufällt. Für den verschuldeten Solomon der Job.
Auf der Vergangenheitsseite hockt Solomons Großvater Godfrey 1918 wenige Tage vor Kriegsende mit seinem Trupp Soldaten in irgendwelchen nordfranzösischen Sümpfen in einem Bauernhof, nach und nach dessen Hühner verfutternd, und versucht, seine Leute aus dem absehbaren letzten Schlachten herauszuhalten, konfrontiert mit einem ebenso blutdürstigen wie spielsüchtigen, völlig unerfahrenen Leutnant. Etliche skizzierte Stammbäume und Erinnerungsfundstücke, darunter eine halbe Walnussschale und ein schottischer Mützenknopf helfen, das von Paulson-Ellis mit Dickensscher Erzählwut und Sternescher Abschweifunglust sorgsam arrangierte Familien-Geschichts-Gerüst voller Waisen- und Findelkinder, Weltkriege, Liebschaften, Männlichkeitsvarianten, Edinburghismen und treu-eigensinnigen Hunden zusammenzuhalten. Notizen zu Familienbeziehungen, Lebens- und Sterbedaten sollten man sich bei der Lektüre machen. Spannend ist das Gewirr allemal: erst ganz zum Schluss wird, comme il faut, enthüllt, ob Solomon etwas Geld bekommt und sein Großvater seine Leute rettet. Ach so, ein Mord kommt auch vor, muss man im Wimmelbild etwas suchen.
Die Krimibestenlisten und wo man sie findet
Die Krimibestenliste JUNI ist seit Freitag, dem 5. Juni, online und kann hier als einseitiges PDF u.a. zum Aushang in Buchhandlungen heruntergeladen werden. Die Krimibestenliste JUNI vom Deutschlandfunk Kultur gibt es als zweiseitiges PDF hier.
Nach und nach werden fast alle Neuerscheinungen der Krimibestenliste in Deutschlandfunk Kultur, immer am Freitag morgen gegen 8.20 Uhr, besprochen. Dort können Sie die Stimmen einiger Jurymitglieder vernehmen. Am Freitag, den 2.6., war ich mit meiner Besprechung von CITY OF DREAMS zu hören. Die Rezensionen wie auch der Link zur Krimibestenliste sind auch online auf der Seite Bücher des Monats nachzuhören und zu –lesen.
Außerdem finden Sie die aktuelle Krimibestenliste im CrimeMag, mit vielen Rezensionen. Dank auch an die Redaktion von Weltexpresso, die jeden Monat nicht nur die Krimibestenliste abbildet, sondern auch die Veränderungen und alle zehn Bücher engagiert kommentiert.
Ich wünsche Ihnen eine aufregende Lektüre und schöne Sommertage!
Ihr Tobias Gohlis