Die Krimibestenliste im Mai: fünf Neue aus acht Nationen
Angesichts des Großverbrechens Angriffskrieg, das Putin begeht, möchte man über Krimis schweigen.
Daher nur knapp ein paar Bemerkungen zu den neuen Titeln:
Unsere Mailiste spiegelt einen Langzeit-Trend deutlicher als je zuvor. Immer mehr Stimmen der weltweit Unterprivilegierten aus ehemaligen Kolonien, die inzwischen selbständige Staaten sind, erkennen im Kriminalroman eine ihrer Situation angemessene Ausdrucksform; und ähnlich geht es den indigenen Autoren in Nordamerika. Der Brite Jacob Ross stammt aus und schreibt über Grenada; David Heska Wanbli Weiden, eingeschriebenes Mitglied der Sicangu Lakota Nation und US-Bürger über das Rosebud-Reservat. Jochen Vogts Spruch „Krimi kann alles“ ist zu ergänzen durch „und spricht alle Stimmen“.
DIE KNOCHENLESER von Jacob Ross ist der Start des „Camaho-Quartets“, das er im auf „Caribbean, its diasporas and the UK“ fokussierten Verlag Peepal Tree veröffentlicht, dessen Cheflektor für Fiktion er ist.
Mich faszinieren an DIE KNOCHENLESER die kenntnisreiche und niemals mit Infodump aufwartende Darstellung der Lebens- und Gewaltverhältnisse „Camahos“, das sich leicht als Grenada entschlüsseln lässt, die witzigen, als Powerpeople leicht überzeichneten Figuren und der ungemein lässige Erzählstil. Zu dem die Übersetzerin Karin Diemerling das ihre kreativ beigetragen hat, indem sie nicht nur eine konsistente lesbare Form für den karibisch-englischen Dialekt entwickelt hat, sondern wunderbare Erfindungen wie „Verrensich“ für „Forensik“ gefunden hat, die zudem noch der Figurencharakteristik dienen. Der Spitzname „Digger“ der männlichen Hauptfigur ist gewiss eine Hommage an einen der wichtigsten Schwarzen Krimi-Autoren Chester Himes und seinen Protagonisten Grave Digger.
Themen von DIE KNOCHENLESER sind verschwundene Personen, sexistische Gewalt, politische Korruption, gegen die das speziell gegründete CID mit seinen eigenen innovativen Methoden zu Felde zieht. Bin gespannt auf die folgenden Bände.
DIE ANDERE MRS. WALKER, der Debütroman der 1968 geborenen Schottin Mary Paulson-Ellis, holt weit aus. Mary Penny, aus einer gescheiterten Beziehung ohne Geld aus London nach Edinburgh zur ebenfalls bedürftigen Mutter geflohen, wird zu einer Detektivin (was sie nicht ahnt, in eigener Sache), die mögliche Verwandte einsam Verstorbener aufzutreiben hat. Parallel zu ihrer Suche im kalten Winter 2011 wird die Geschichte der verstorbenen Mrs. Walker in Zeitsprüngen seit 1929 rekapituliert. Eine Geschichte von Kriegsangst, Armut, einer gekaperten Familie, von Doppelmord und Entfremdung, ergreifend nüchtern wie ein Dickensroman, aus weiblicher Perspektive.
Bis in den Titel TERMINUS LEIPZIG ist dies ein deutsch-französischer Roman, verfasst von Jérôme Leroy und Max Annas, alten Bekannten der Krimibestenliste, die sich auf einem Krimifestival in Lyon persönlich kennengelernt haben und beschlossen, die neue Freundschaft mit einem kleinen Roman zu feiern. Herausgekommen ist ein rasantes Stück, in dem die gnadenlose französische Antiterror-Polizistin Christine Steiner nach Leipzig reist, um den Mann zu töten, der ihre Mutter und sie als Säugling verlassen hat. Als versöhnungsfördernd erweist sich ausgerechnet eine Bande von Neonazis, die alte RAF-Kader liquidieren will.
WINTER COUNTS nennen die Lakotas Kalenderzeichnungen, auf denen sie die Ereignisse des Jahres festhalten. Mit einer zeitgenössischen Winter(er)zählung beginnt der in Denver lebende und unterrichtende David Heska Wanbli Weiden eine Serie von Romanen, in der die sozialen Gewaltverhältnisse im Rosebud-Reservat in South Dakota erzählt werden. Aber nicht nur: Der gebrochene Held und Ich-Erzähler Virgil Wounded Horse wandelt sich im Kampf gegen mexikanische Kartelle, korrupte Politiker und für die Freiheit seines Neffen vom privaten Schläger-Vollstrecker zu einem Mann, dem die indianische Spiritualität etwas bedeutet, besonders die Wacontognaka genannte Tugend, die dem besiegten Gegner Mitgefühl und Güte entgegenbringt. WINTER COUNTS beeindruckt durch die ungeschönte Darstellung der Verhältnisse im Reservat und die vielfältige Unterdrückung seiner Einwohner. David Heska Wanbli Weiden, ein eingetragenes Mitglied der Sicangu Lakota Nation, gelingt es, die Aufklärung der Wasicu (der „Weißen“) in seinen eher schlichten und voraussehbaren Kriminalfall so zu integrieren, dass die Spannung niemals nachlässt. Erklärende und einordnende Texte runden dieses hervorragende Beispiel indigenen Erzählens ab. Zu erwähnen wären Marcie Rendon, andere, teil auch ins Deutsche übersetzte, erwähnt Weiden in seinem Nachwort. Sein Name wird lt. US-Verlag „Heh-ska Wahn-blee Why-den“ ausgesprochen. Unbedingt lesenwert.
IN DEINEN AUGEN DER TOD von Kerstin Ruhkieck spielt auf emotional hoch gespanntem Seil. Nicht nur Icherzählerin Olivia Bloch, die vier Monate zuvor eine Geiselnahme in Hannover mit über 20 Toten überlebt hat, auch die anderen weiblichen Figuren befinden sich in extremen psychischen und körperlichen Lagen. Ständig ringen sie um Atem, kreischen, halluzinieren, brechen zusammen. Demgegenüber spielen die beiden männlichen Protagonisten die Unsicheren, aber sie spielen es nur. Wahre Gefühle, wenn auch widerstreitende, empfinden eher die Frauen in diesem auf wilde, erschreckende Enthüllungen zusteuernden Roman. Eingebildete und reale Verfolger setzen der 22jährigen Olivia zu, die fünf Jahre zuvor ohne Aufklärung beendete Freundschaft zu Julian quält sie, dazu kommen Hateposts in den unsozialen Medien, Morde und Demenz. Leider findet Kerstin Ruhkieck für diese inneren und äußeren Dramen nicht ganz die adäquate Sprache, bürokratische Floskeln und höchste Erregung mit magerem Vokabular nehmen der Geschichte die Wucht.
Die Krimibestenliste Mai ist seit Freitag, dem 6. Mai, bei Deutschlandfunk Kultur online und kann hier als PDF heruntergeladen werden.
Außerdem finden Sie die aktuelle Krimibestenliste im CrimeMag. Dank auch an die Redaktion von Weltexpresso, die jeden Monat nicht nur die Krimibestenliste abbildet, sondern auch die Veränderungen und oft auch einzelne Bücher engagiert kommentiert. Und bereits am Freitag morgen hat Sonja Hartl bei Deutschlandfunk Kultur DIE KNOCHENLESER als höchsten Neueinstieg besprochen.
Ich wünsche spannende Lektüre
Tobias Gohlis