Habe ich 6 Stunden vertan oder verbracht?
Hannes Sprado hatte mich schon mal ziemlich geärgert. In seinem Krimidebüt RISSE IM RUHM (2005) hatte der Herausgeber und Chefredakteur der PM-Zeitschriften mächtig genervt. Er strotzte vor Eitelkeit und Selbstüberhebung. Ein Hamburger Magazinjournalist rettet die Welt – das hatten schon bessere vergeblich versucht.
Ein paar Thriller später ist von dem Omnipotenz-Geblubber des Debüts kaum noch etwas übrig geblieben, nur noch ein Hauch von Allwissenheit zu Themen wie Waffentechnik, Oligarchenparfüme und U-Boote bringt den Lesefluss zum Stocken. Angenehm nüchtern reduziert Sprado in KALT KOMMT DER TOD alles, was Bedeutung annehmen könnte, aufs winzigste. Er hat einen schlichten, unprätentiösen Thriller geschrieben, den man gerne runterliest, wenn man nicht besseres zu tun hat.
Das Teil ist kühl wie Spitzbergen. Dorthin verschlägt es den Vietnamesen Phong Packer, der als Boat-People nach Bremen gelangt ist, dort von einer Reedersfamilie adoptiert wurde, zur Kripo ging, wegging, bevor er gefeuert wurde und sich jetzt als Privatdetektiv durchschlägt. Nicht sehr realistisch, aber denkbar. In Spitzbergen soll er seine verschollene Adoptivschwester finden, wird schnell in handfeste Keilereien und üble Schießereien verwickelt, das alles bei heftigen Minusgraden. Keineswegs von Nachteil: Sprado scheint vor Ort gewesen zu sein. Mit Hilfe einiger anständiger Kerle und furchtloser Weiber überwindet Phong einen internationalen Konflikt, einen russischen Oligarchen und eine Putinsche Geheimdiensteinheit, der er auf dem Privatflughafen von DEADS den Garaus macht, wieder in heimischen Hamburger Gewässern.
Verbracht, nicht vertan – immerhin.
Hannes Sprado: Kalt kommt der Tod
Edition Temmen, 416 Seiten
Zoe Beck: Brixton Hill
Der Kriminalroman lebt davon, dass in der Realität eine Anomalie auftritt: Das Rätsel. So der französische Soziologe Luc Boltanski in seinem lesenswerten Buch Rätsel und Komplotte: Kriminalliteratur, Paranoia, moderne Gesellschaft.
Wie aber würde eine Anomalie aussehen in einer Realität, die wesentlich virtuell ist? Konkret: Was würde jemandem als Rätsel oder als Verstörung vorkommen, der hauptsächlich per Social Media kommuniziert und quasi in ihnen lebt?
Zoe Beck hat in BRIXTON HILL die denkbar brutalste Anomalie gefunden. Die Realität bricht herein. In diesem Fall: Eine Kollegin, mit der die Eventmanagerin Em gerade verhandelt, stürzt aus dem Fenster. Jemand hat die Klimatechnik eines Büroturms an der Themse manipuliert, Rauch quillt aus der Klimaanlage, die Fluchttüren sind versperrt, Kollegin Kimmy gerät in Panik und steigt aus dem Fenster. Ausgelöst wurde die Anomalie durch eine SMS.
Em ist ein early adopter , immer vorn dran mit den neuesten Accounts und Phones. Sie hat kein Büro, sondern ein Smartphone. Auch sozial ist sie ungebunden: Männer trifft sie an den freien Tagen, wenn kein Projekt anliegt. Keine weitere Verpflichtung.
Das Spannende an Becks Krimi sind die Prüfungen, die Em ertragen muss, ein weiblicher Hiob der Facebook-Ära. Sie sieht ihren Zwillingsbruder sterben. Sie sieht sich als Opfer eines Stalkers, sie wird als Mörderin beschuldigt etc. Geprüft wird sie, vor allem aber ihre Wahrnehmung der Realität, ihr ganzes Koordinatensystem. Die vertrauten Kommunikationsplattformen Twitter, Facebook und Mail sind unterwandert, sie kann den gewohnten Kommunikationsmitteln und -wegen nicht mehr trauen – und Menschen, denen sie vertrauen könnte, kennt sie nicht. Oder die, die sie kennt, trauen ihr nicht.
Zoe Beck arrangiert Ems Suche nach denen und dem, was dahinter steckt, als langsamen Sturz die Treppe hinab. Von den Höhen virtueller Allmacht in die harte Realität.
Dazu gehört auch die Erfahrung, dass die Leichtigkeit und Vielfältigkeit der modernen Kommunikation die Illusion schürt, die Welt selbst sei leicht zu händeln. Dass dies keineswegs so ist, entdeckt Em, als sie in der eigenen Familie – wo sonst? – auf eine wahre Lady Macbeth stößt.
Wo sonst als in der Familie? Interessant, dass die Täter auch in der Fiktion dort herkommen, wo sie in der völlig anderen Realität der Kriminalstatistiken meist sind.
Beck ist nicht die erste Autorin, die Crime im Cyberspace spielen lässt. Doch bei ihr ist die virtuelle Realität nicht der Quell des Unheimlichen, in dem sich Wahnsinnige mit wahnsinnigen Ideen herumtreiben. Die Cyberwelt ist gewohntes, friedliches Umfeld, Zuhause. Der Wahnsinn tobt dort, wo die Menschen sind: im Off.
Zoe Beck: Brixton Hill
Heyne, 384 Seiten
KrimiZeit-Bestenliste Januar 2014
Rowlings Kuckucksei
Der Plan ist nicht aufgegangen. Joanne K. Rowling wollte unter dem Pseudonym Robert Galbraith ganz neu und unerkannt anfangen, mit einem Krimi. Wie nicht anders denkbar, wurde sie verraten. Von einem Anwalt ihres Vertrauens. Er steckte der Presse die wahre Identität des pensionierten Soldaten „Galbraith“, der – so war es geplant – wegen seiner militärischen Vergangenheit keine Interviews geben und Fotos zulassen konnte.
Das passt: DER RUF DES KUCKUCKS erzählt von der schönen Lula Landry, die von einer Familie geldbesessener Anwälte adoptiert wurde. Kaum hat sie sich dank ihrer Schönheit als Supermodel sozial und finanziell von dieser Herkunft emanzipiert, wird sie vom Balkon ihres Penthauses gestürzt.
Natürlich ist es Mord, und natürlich bucht die Polizei den Sturz der Schönen als Selbstmord ab. Das ist die Geschäftsbedingung, unter der Rowling einen Privatdetektiv ins Spiel bringen kann. Es muss etwas aufgeklärt werden, dass der Polizei nicht zugänglich ist. Das ist die Liebe.
Lulas ebenfalls adoptierter Bruder John Bristow liebt die Verstorbene so sehr, dass er die Selbstmordthese nicht akzeptieren kann und Privatdetektiv Cormoran Strike beauftragt, den Fall vom Balkon noch einmal zu untersuchen. Rowling beschreibt Bristow ambivalent als gut angezogen, aber nicht attraktiv: teigiger Teint, dicke Brillengläser, hasenartige Mimik. Sympathisch wird er durch seine Zuneigung zur kleinen toten Schwester. Er ist der einzige, der ihren Tod bedauert. Die anderen Familienmitglieder, alle mit der Anwaltskanzlei des verstorbenen (impotenten!) Adoptivvaters verquickt, hielten sie für verwöhnt und asozial. Lulas biologischer Vater war schwarz.
All das kriegt das Detektivpärchen Strike und Robin in ermüdend langen Ermittlungen und Zeugenbefragungen heraus. Rowling charakterisiert die seit mehreren Jahren mit einem Buchhalter verlobte Robin als patentes, rücksichtsvolles Mädchen, das von seiner romantischen Begeisterung für das Detektivspielen und für den unterschenkelamputierten Strike dazu verleitet wird, gegen ihre wirtschftlichen Interessen bessere Jobangebote auszuschlagen und bei dem armen Mann zu bleiben, der unter Einsamkeit und hohen Schulden leidet. Strike muss einen Kredit bedienen, den ihm sein steinreicher Vater, ein in die Jahre gekommener Rockstar, gewährt hat. Würde er seinen Sohn lieben, hätte er ihm die Summe geschenkt, die „weniger wert ist als das beschissene Badesalz seines Butlers.“
JK Rowling bietet die Schmachtfetzenvariante der sozialen Anklage eines Charles Dickens: Geldversessene Eltern, ungeliebte Kinder.
Aus diesem Elend ragt die von Keuschheit, Respekt und militärischer Disziplin geprägte Kameradschaft von Robin und Cormoran heraus.
Über den Tod hinaus verbündet sich das Heldenpaar mit der anderen wilden Edlen, der „milchkaffeefarbenen“ Schönheit Lula. Denn hinter der Glamourfassade des Topmodels schlug ein einsames, mildtätiges Herz. Lula hat sich rührend, und ohne dass es ihr gedankt wurde, um eine prollige Mitpatientin aus der Entziehungsklinik gekümmert. Sie hat ihre Millionen dem lange gesuchten leiblichen Bruder überschrieben, der in Afghanistan Her Majesty dient. Dieser brave Soldat ist der einzige, der nicht von der Tandwelt des Geldes infiziert ist – und deshalb damit belohnt wird.
Dieser viktorianische Kitsch, der, wie Kolja Mensing aufzeigt, mit jeder Menge Ressentiments vermischt ist, fällt deshalb nicht sofort ins Auge, weil Rowling ein Händchen für die Schilderung von Situationen und Szenen hat. Auch eine gewisse Ironie mildert die moralisierende Dichotomie und verschafft angenehme Lektüregefühle. Manchmal scheint es, als bediene Rowling sogar den Dekonstruktivisten im Leser. So lässt sie Cormorman Strike just dann die Treppe runterfallen, als er endlich den schlagenden, letzten Beweis gefunden hat. (Übrigens im herausnehmbaren Seidenfutter einer Designerhandtasche.)
Solche Spielchen könnten den Eindruck erwecken, Rowling nehme die Konstruktion ihres Romans auf die Schippe. Kein bisschen: Ihr Detektivpaar ermittelt wie aus dem Lehrbuch des Rätselkrimis vergangener Zeiten.
Strike, der aussieht wie Jack Reacher, aber infolge seiner Behinderung nicht wie dieser handeln kann, verwandelt sich im zähen Fortschritt der Ermittlungen immer mehr in einen Hercule Poirot, der seine Leser mit Hinweisen auf Erkenntnisse zu fesseln versucht, die er demnächst enthüllen wird, jetzt aber noch nicht offenbaren kann. Gähn.
DER RUF DES KUCKUCKS kritisiert die Geldgier- und Promigesellschaft durch rückwärts gewandten Eskapismus. Deshalb entlarven Rowlings edle Pappdetektive auch keinen Verbrecher: Der Mörder ist ein Wahnsinniger. Klarster Beweis seines Wahnsinns: Er hat sie engagiert. Nur so kann Rowling den Einsatz ihres viktorianischen Klischeepärchens im 21. Jahrhundert dramaturgisch legitimieren.
Robert Galbraith, d.i. JK Rowling: Der Ruf des Kuckucks
Aus dem Englischen von Wulf Bergner, Christoph Göhler und Kristof Kurz
Blanvalet 640 Seiten
Jörg Maurer: Unterholz und Elise
Jörg Maurer, geboren und wohnhaft im „Kurort“ am Wettersteingebirge, war in Hamburg und gab zum Abschluss des diesjährigen Hamburger Krimifestivals ein musikkabarettistisches Krimisolo.
Vorab hatte der „Kultkabarettist“ dem heimischen Abendblatt ausgetüftelte Antworten auf die Fragen gegeben, die man Krimiautoren so stellt. Manch ein Besucher, das ergab eine Blitzumfrage in der Reihe hinter mir, kam mit Dialogen wie diesem nicht völlig klar: „Und wie ist dann die Figur Ihres Kommissars Jennerwein entstanden?“ „Maurer: Ich habe mit den Ohren angefangen.“ Aber trotz Unverständnis waren die weltoffenen Hamburger gekommen, Kampnagels K 6 war mit ca. 700 Besuchern voll.
Verwundertes Schweigen sank nach dem ersten „erfreulichen Geräusch“ (= Applaus) herab, als der Autor vorführte, dass man den Anfang seines Romans UNTERHOLZ als Thriller ebenso wie als Gutenachtgeschichte vortragen kann. Kommt auf Stimme und Intonation an. Blut ist auch nur ein grauslicher Saft. Als Maurer – beim ersten Solauftritt am Gasteig vor 40 oder 30 Jahren ins Stocken gekommener und deshalb zum Kabarettisten abgestiegener Konzertpianist – Beethovens Kinderquälerei „Für Elise“ mit Pink-Panther-Melodiefetzen und Tatort-Erkennungsmelodie aufrockte, da kamen den Hanseaten doch ein paar Bedenken. Sollte das Krimi sein? Oder heiteres Melodienraten?
Es war ’ne Wucht. Fand ich.
Musik sind auch seine Romane, die zu Verkaufszwecken Alpenkrimis genannt werden. Sie unterhalten nach dem Zwiebelprinzip in zahllosen Schalen: die Schuhplattler können mitplatteln, die Touristen die Authentizität anbeten, die Krimikritiker kichern, die Asiaten Haikus entdecken und die organisierten Verbrecher sich weiterbilden. Prädikat: absolut unschädlich für Doofe. Mit breitem Dialekt-Angebot.
Jörg Maurer: Unterholz
Scherz, 432 Seiten
Anfang mit Avraham
Dror Mishani verpasst dem israelischen Krimi einen Neustart
In Israel mag man keine Detektivromane. In den dreißiger Jahren wurden Sherlock-Holmes-Geschichten ins Hebräische übersetzt, um den jungen Israelis das Erlernen der fremden, zukünftigen Staatssprache mit spannenden Texten zu erleichtern – ein Projekt, das scheiterte. Der Autor Dror Mishani hat in der Zeitung Ha’aretz an diesen schlechten Start des Genres erinnert. Jetzt hat er selbst seinen ersten Kriminalroman veröffentlicht, und wenn nichts dazwischenkommt, ist VERMISST der vielversprechende Beginn einer langen spannenden Beziehung zu seinen Lesern.
Mishani startet mit Ambitionen: Avraham Avraham, Polizeiinspektor in Mishanis Geburtsstadt Cholon und Protagonist seines ersten Romans, soll ihn sein Leben lang begleiten. So verriet es der Autor in Ha’aretz; Mishani ist jetzt 38.
Die Geringschätzung des Detektivromans in Israel ist ein Handicap, die ethnische Herkunft seines Inspektors ein andres. Avraham ist, wie die Mehrheit der Bewohner Cholons, Mizrachi, ein Jude aus Nordafrika oder dem Mittleren Osten. Die bekommen meistens die schlecht angesehenen Jobs, als Polizist zum Beispiel (solche Umstände hätte der deutsche Verlag seinen Lesern in einem Vorwort nahebringen können). So hat es Avraham in seiner Industrievorstadt mit „Bagatelldelikten zu tun, über die niemand etwas lesen möchte“. Trotzdem gelingt es Mishani, gewissermaßen vom untersten denkbaren Ausgangspunkt startend, aus dem unspektakulären Fall des vermissten Ofer Sharabi eine spannende, hintergründige Geschichte zu machen.
Der 16-Jährige ist eines Morgens nicht zur Schule gegangen, sondern spurlos verschwunden. Als die besorgte Mutter sich an die Polizei wandte, wurde sie von Avraham mit dummen Sprüchen abgewimmelt. Jetzt quält der Gute sich mit Schuldgefühlen, kommt aber nicht weiter. Niemand weiß etwas über den Verbleib des Jungen, die Mutter ist verschlossen wie eine Auster.
Nur Seev Avni, Ofers Nachbar und Nachhilfelehrer, kann mit dem Verschwinden des Jungen etwas anfangen. Er drängt sich den Ermittlern als Ratgeber auf, stellt ihnen den introvertierten Jungen als von seinen Eltern missverstandenes Sensibelchen dar. Kurzum, Seev macht sich verdächtig. Das ändert sich auch nicht, als offenbar wird, dass er Ofers Verschwinden als Gelegenheit begreift, seinen Traum vom Schreiben Wirklichkeit werden zu lassen. Seev ist Mitglied einer Schreibgruppe und möchte etwas verfassen, das wie Kafkas berühmte Axt in das „gefrorene Meer in uns“ einschlägt. Seev richtet erhebliches Unheil an, was ein amüsantes und lehrreiches Kapitel über Geltungsdrang und Vernichtungswirkung literarischer Ambition ist.
Aber Seev hilft auch, ohne von seinem hohen Ross runterzukommen, bei der Aufklärung des Falles. Deren Resultate allerdings dürften Krimileser und vor allem Kenner der schnöden Realität nicht wirklich überraschen. Aber Mishani präsentiert sie spät, raffiniert und mit einem Schuss Selbstzweifel, also ziemlich brillant. Avraham liebt es nämlich, literarischen Detektiven wie Hercule Poirot Fehler in ihren Deduktionen nachzuweisen. Umso überraschender und bitterer ist nun für ihn die Erfahrung, dass die kontingente Wirklichkeit seinen derart geschulten grauen Zellen einen gewissen Widerstand leistet. Mishrani bietet uns – ähnlich wie der schwedische Autor Arne Dahl – elegante, realitätstüchtige Kriminalliteratur, die ihre literarischen Bedingungen mitreflektiert. Wobei allerdings Mishani beim nächsten Avraham-Avraham-Roman ruhig noch etwas tiefer in die israelische Alltagswirklichkeit eindringen könnte.
Dror Mishani: Vermisst
Asu dem Hebräischen von Markus Lemke
Zsolnay, 352 Seiten
(Dieser Artikel erschien in der ZEIT vom 1.8.2013 ) Auf der KrimiZeit-Bestenliste August, September, Oktober 2013
Ein Gespräch mit Dor Mishani
Thekla Dannenberg, Krimikolumnistin beim Perlentaucher und Jurymitglied der KrimiZeit-Bestenliste, hatte kürzlich Gelegenheit, den israelischen Autor Dror Mishani zu sprechen. Sehr interessant!
Mishani ist für die israelische Elite zweifach provokant: Er schreibt Kriminalromane und die schreibt er über Mizrachim, das heißt: über orientalische Juden. Die können per se keine Helden sein, also auch keine erfolgreichen Polizisten.