Aus dem Maschinenraum:
Seit Samstag, den 5.12. abends hat die Zahl der Neuanmeldungen auf meinem Blog Recoil die Zahl von 300 überschritten.
Hier ein Blick in mein Postfach:
Der Krimiblog von Tobias Gohlis
von Tobias Gohlis
Aus dem Maschinenraum:
Seit Samstag, den 5.12. abends hat die Zahl der Neuanmeldungen auf meinem Blog Recoil die Zahl von 300 überschritten.
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von Tobias Gohlis
Un-su Kim, geboren 1972 in Busan, ist vielleicht der spannendste einer ganzen Zahl hervorragender und faszinierender Autorinnen und Autoren aus Südkorea, die in den letzten Jahren übersetzt wurden. Unter ihnen: Jeong Yu-jeong und Kim Young-ha, dessen Verlag Cass im Oktober 2020 mit dem Preis der Hotlist der Unabhängigen Verlage ausgezeichnet wurde.
Kim ist nicht nur ein toller Schreiber, sondern auch sonst ein ziemlich wilder Typ, wie ich auf der Buchmesse 2018 erfahren durfte. Kim sprang bei einem Dinner seiner amerikanischen Agentin unter hochrangigen koreanischen Diplomaten herum wie ein Clown; Begründung: der Ernst soll den Büchern vorbehalten bleiben, Parties sind Parties. Da er sich Namen nicht merken wollte, nannte er mich den Abend über „Santa Claus” – wir verstanden uns prächtig.
Da die beiden von ihm auf Deutsch erschienen Bücher aus dem Englischen bzw. Französischen übersetzt sind, wollte ich unbedingt seine originale Stimme wenigstens in direkter Übersetzung vernehmen, und es gelang, sehr kurzfristig mit der tollen Unterstützung der Verlegerin Ki-Hyang Lee per E-Mail ein deutsch-koreanisch-deutsches Interview zu führen. Dessen kurze Fassung (etwa 12%) ist in der ZEIT am 2.11.20 erschienen. Auch die Fassung, die ich hier veröffentliche, ist noch leicht gekürzt.
Un-su Kim schreibt seit 30 Jahren, lässt aber erst vier Werke gelten. Die Novelle The Cabinet von 2006 führt in eine geschlossene postmoderne Welt, in einen Schrank voller Geschichten, dessen und deren Erzähler 178 Tage damit verbringt, nur Dosenbier zu trinken. 2010 erschien Die Plotter mit einem suizidalen Auftragsmörder als Protagonist. Das war Kim internationaler Durchbruch. 2013 veröffentlichte er eine Sammlung mit Kriminalgeschichten, 2016 erschien Heißes Blut, ein Gangster-Epos aus dem fiktiven Slum Guam an der Küste des Hafenorts Busan. 2021 soll mit Big Eye die so genannte „Abscheu-Trilogie” abgeschlossen werden, auf die dann eine Mitgefühl- (Compassion-) Trilogie folgen soll.
Sie haben bisher drei Romane und eine Sammlung mit Erzählungen veröffentlicht. Die Plotter wurden in 20 Sprachen übersetzt und die Filmrechte verkauft. Betrachten Sie sich, im Alter von 48, als erfolgreich? Sind Sie dort angekommen, wo Sie hinwollten?
Auf keinen Fall! Ich bin noch lange nicht am gewünschten Ziel angekommen. Das bedeutet aber natürlich nicht, dass ich unbedingt berühmter werden und mehr Geld verdienen muss. Ich wohne auf dem Land und kann mit meiner Frau mit sehr geringen Lebenserhaltungskosten ein reichhaltiges und glückliches Leben führen. Aber der Ort, den ich wirklich erreichen möchte, ist ein Dasein in andauernder Verbundenheit und beständigem Bewusstsein.
Verbundenheit ist hier der Zustand, in dem das Subjekt und ich vollständig eins sind. Im Osten verwendet man dazu die Formulierung „Der Geist wird eins mit der Natur (oder allen Arten von Objekten).” Der konfuzianische Gelehrte Toegye, dessen Konterfei eine koreanische Banknote ziert, sagte in Bezug auf das Verbundenheitsprinzip ganz simpel: „Ich denke nur ans Essen, während ich esse. Wenn ich mich ankleide, konzentriere ich mich nur aufs Ankleiden. Und ich vermische die Dinge nicht.”
Was mich betrifft, so hoffe ich, dass ich, wenn schon nicht in jedem Moment, so doch zumindest beim Schreiben wach sein kann. Ich träume davon, direkt in den Roman einzutauchen und eins mit dem Protagonisten zu werden, anstatt gleichsam nur Randnotizen der Geschichte zu skizzieren. Das ist aber schwieriger, als man meint. Der Geist springt andauernd herum wie ein wildes Pferd, im Bedauern über Vergangenes und voller Sorgen um die Zukunft, das tägliche Leben ist voll von allerlei Wirrwarr und dem daraus resultierenden Gefühlschaos. Das verhindert die Verbundenheit zwischen mir als Schriftsteller und dem Roman. Ich versuche also, mein Leben sehr einfach und ruhig zu gestalten.
Sie haben in Seoul Koreanische Literatur studiert, aber schon vor dem Studium und dem Militärdienst mit 16 Jahren begonnen zu schreiben. Was hat Ihnen am meisten geholfen, Schriftsteller zu werden – das Lesen anderer Schriftsteller, das Leben oder das Studium an der Universität?
Dass ich zu schreiben begann, beruht auf einem winzigen Ereignis. Es war im März 1988, und ich war gerade auf die High School gekommen. In der Pause starrte ich geistesabwesend auf einen Füller, den ein Klassenkamerad vor mir in der Hand hielt. Es war ein silberner Füllfederhalter von Parker, und er sah großartig aus. Ich fragte meinen Mitschüler, ob ich seinen Füller ausprobieren dürfe. Bereitwillig lieh er ihn mir. Ich nahm ihn, öffnete mein Heft und schrieb etwas, ohne nachzudenken. Als ich die erste Silbe zu Papier brachte, war ich fasziniert von dem Gefühl und der dicken schwarzen Tinte, die aus der Feder quoll. Die Tinte floss sanft aus der Spitze und blieb eine Weile auf der Papieroberfläche. Dabei glänzte sie im Licht einer Leuchtstofflampe, bevor sie in das Papier eindrang und die Buchstaben bildete. Die geschriebene Silbe, die sich mit einer leichten Wölbung aus dem Papier erhob, wirkte in gewisser Weise wie eine Skulptur. Wie eine missglückte Vergangenheit, die sich nun unumkehrbar verfestigte, schien sie eine unveränderliche Form zu haben.
In diesem Moment überkam mich eine enorme Ruhe, die ich immer noch nicht verstehen kann, und deren ausgelöste Empfindung ich nur schwer zu erklären vermag. Es war, als gäbe es im ganzen Universum nur noch den Füllfederhalter, die Tinte, das Papier und die Buchstaben. Die Füllfederhalterspitze gab ein schabendes Geräusch von sich, während sie über die Seite strich. Aus der Feder austretende Tinte sickerte in das Papier ein und hinterließ eine Aufzeichnung des Alterns wie ein Tattoo in der Haut. Ich betrachtete es weiter. Ich schrieb einen Satz, der nicht viel bedeutete, änderte ein Adjektiv und schrieb den gleichen Satz erneut. Ich schrieb über den Himmel vor dem Fenster des Klassenzimmers, über eine Wolke in Form einer Herde, über einen schwarzen Vogel, der in die Wolke eintaucht und dann wieder erscheint.
Als die Schulglocke läutete, bat mich der Schüler, den Füller zurückzugeben. Während ich ihm den Stift aushändigte, beschloss ich aus heiterem Himmel, Schriftsteller zu werden.
Ich ging zum Bupyeong-Kkangtong-Markt in Busan und kaufte einen Füllfederhalter und Tinte, die so dunkel war wie Rohöl. Und seitdem schrieb ich, wann immer ich Zeit fand, etwas in das Heft. Wenn ich darüber nachdenke, glaube ich, meine Liebe galt nicht der Literatur selbst, sondern dem Akt des Schreibens.
Das ist genaugenommen der Anfang meines Schreibens und macht es insgesamt aus. Ich bin ständig auf der Suche nach intensiver Ruhe und nach der Ekstase des Augenblicks, von Momenten, die voll und ganz mit dem Gegenstand verbunden sind, wie ich es als Sechzehnjähriger in dieser Pause erlebt hatte.
Als ich fünfundzwanzig war, ging ich an die Universität, um ernsthaft Literatur zu studieren, aber ich konnte in den Vorlesungen und Seminaren selbst nicht viel Sinn entdecken. Die Kurse empfand ich als eine Einöde nutzloser Theorien und Thesen. Wenn ich ehrlich bin, hat mich das Studium der Literaturwissenschaft negativ beeinflusst.
Ich bin auch überzeugt, dass es an den zahlreichen Lehrmeinungen und Theorien lag, dass ich über zehn Jahre lang in einer Schaffenskrise steckte. Aber wenn ich jetzt darüber nachdenke, scheint es mir, als hätte ich die Bedeutung und den wirklichen Wert von Dingen wie Rhythmus, Spannung, Gleichgewicht und Harmonie, die ich ursprünglich beherrscht hatte, nicht verstehen können, ohne durch das Ödland dieser nutzlosen Theorien und Ansichten zu gehen.
Sie haben begonnen wie fast alle Schriftsteller, mit Poesie. Warum sind Sie – zumindest öffentlich – zur Prosa gewechselt?
Ich schreibe keine Gedichte mehr. Ich habe kein Talent dafür. Gedichte werden von Menschen geschrieben, die sich in höheren Sphären bewegen als ich, die edlere und empfindlichere Antennen haben als ich. Das ist nicht spöttisch gemeint, so denke ich wirklich.
Ich gab die Poesie mit Mitte zwanzig auf und schrieb nur spaßeshalber eine Kurzgeschichte.
Ab wann konnten Sie sich ganz aufs Schreiben konzentrieren?
Ich darf wohl als der seltsame und erbärmliche Fall eines Autors gelten, dessen Fokussierung und Leidenschaft im Laufe der Zeit immer mehr litten und allmählich auf einen Tiefstand fielen. Am schlimmsten war es zehn Jahre nach meinem Debüt als Schriftsteller.
Anfang vierzig hatte ich eine gefährliche Operation, bei der ein Halswirbelknochen entfernt wurde, weil er in das Nervenzentrum eindrang, und ich musste sechs Monate lang das Bett hüten. Es war eine heikle Zeit, den ganzen Tag an die Decke zu starren, weil ich meinen Körper nicht bewegen konnte. In diesem heißen Sommer, als die Zikaden unaufhörlich schluchzten, lag ich da und sah stundenlang zur Decke hoch, und plötzlich wurde mir klar, warum meine Werke so unaufrichtig waren und warum mir das Schreiben, das ich als Kind so sehr genossen hatte, zur Hölle wurde.
Ich hatte nämlich die Verbindung verloren. Wie eine Schamanin, die den Zugang zu ihrem Gott verloren hat, verschwand die übernatürliche Kraft und übrig blieb nur der sinnentleerte Tanz, in dem ich mich wand. In der Folgezeit nach dieser Operation hatte ich das Gefühl, allmählich zu dem Jungen zurückzukehren, dem in jungen Jahren ein Füller das Herz hatte aufgehen lassen. Mit anderen Worten, ich hatte einen Knochen im Nacken verloren und stattdessen die Verbindung zum Schreiben gewonnen.
Aber die alten Vorstellungen und Gewohnheiten haften immer noch an meinen Fußgelenken, so dass ich nur schleppend vorankomme.
Zuvor haben Sie versucht, das Geldverdienen und das Schreiben unter einen Hut zu bringen. In welchen Jobs haben Sie Lebenserfahrung (und Geld) gesammelt?
Ich habe als Installateur gearbeitet, als Arbeiter in einer Fabrik, die Funkgeräte für Schiffe herstellt, als Klempner, als Kellner in einem Nachtclub, als Dozent an einem Privatinstitut (für das Schreiben von Aufsätzen), als Verlagsangestellter, in Kneipen und manchmal als Lektor in der Filmbranche, sowie in anderen vergleichbaren Jobs. Bis vor wenigen Jahren konnte ich mit dem Romanschreiben nicht genug für den Lebensunterhalt verdienen. Wenn das Geld knapp wurde, musste ich rausgehen und irgendetwas tun. Damals dachte ich, dass ich ein äußerst jämmerliches Leben habe.
Von meinem Vater erbte ich Schulden anstelle von Haus oder Geld, und dem jungen Mann stellten sich diese Schulden als ein hoher und unbezwingbarer Berg dar. Meine Jugend war wie ein langer Kampf gegen Armut und Schulden.
Aber wenn ich Romane schrieb, fragte ich mich selbst, wo aus meinem Kopf diese Charaktere herausgesprungen kamen. Mit einem Mal begriff ich, dass viele der Figuren aus meinen Romanen auf Menschen zurückgingen, die mir in meinen verschieden Jobs begegnet waren. Und ihre Beschäftigungen entsprachen all den vielen Tätigkeiten, mit denen ich mich über Wasser gehalten hatte.
Erst als Sie aufs Land gezogen sind, haben Sie die Ruhe zum Schreiben gefunden. Was bedeutet Ihnen, dem Stadtmenschen, das Landleben?
Ich lebe in Jinhae, einer kleinen Küstenstadt im Süden. In der Tat kann ich sagen, dass dieses Städtchen mich gerettet hat. Wäre ich in Seoul geblieben, wäre ich verkümmert. Der ruhige, langsame Rhythmus hier passt sehr gut zu mir. Jeder Mensch hat seinen eigenen Maßstab für die Welt, in der er leben und lieben kann. Wenn Sokrates sagte, du sollst dich selbst erkennen, meint er, dass du das Farbspektrum kennen sollst, in dem deine Seele strahlt, und den Rhythmus, in dem sie schwingt. Das Volumen meiner Seele ist sehr klein. Der Durchmesser der Lebenssphäre, den ich ertragen kann, ist auch sehr klein.
Als ich jung war, hatte ich einen großen Traum, aber für mein jetziges Ich sind die Dimensionen auf dem Land genau richtig. Um ehrlich zu sein, ist das Leben selbst in dieser Größe noch überwältigend, weil ich nicht genug Liebe und Hingabe bieten kann.
In einem Interview sagen Sie, lange Zeit hätten Sie auf einem mittelmäßigen Level geschrieben. Was meinen Sie mit „mittelmäßig“ und was konnten Sie seitdem verbessern?
Mittelmäßigkeit ergibt sich aus nicht wahrheitsgetreuem oder irreführendem Schreiben. Sie besteht aus bewussten Phrasen, in denen übertriebene Gedanken gewaltsam miteinander verwoben werden, um die eigene Botschaft oder das eigene Thema zu vermitteln. Es ist, als wäre das Leben weg, nur Mitteilungen bleiben zurück.
Das Wesentliche des Daseins ist in jedem Moment lebendige Erfahrung, weder Botschaft noch Sujet. Niemand lebt, um nur Botschaften zu vermitteln. Auch die Essenz eines Romans besteht letztlich in Erfahrung. Egal, ob Sie Leser sind oder Schriftsteller, Romane geben uns die Möglichkeit, selbst für eine kurze Zeit zum Protagonisten der Geschichte zu werden und ein Leben, das völlig anders ist als das eigene, wie real mitzubekommen. Das ist alles. Wenn ein Autor diese Essenz vergisst und nur mit den Gedanken ringt, gerät er in einen Sumpf der Qualen. Wie Insekten auf einer Wassermelone, die die Schale nicht durchdringen und nur an der Oberfläche lecken können, wird er unter dem Schreiben leiden, ohne zum Kern zu gelangen. Ich habe über ein Jahrzehnt lang, also von Anfang dreißig bis vierzig, elf Bücher geschrieben. Fast alle musste ich in den Müll werfen.
von Tobias Gohlis
Aristoteles ging davon aus, dass es zwei Arten von Lebewesen gibt, „die nicht in Gemeinschaft leben oder ihrer bedürfen“: Götter und Tiere. Aber die Menschen seien auf Gemeinschaft angewiesen. Gods and Beasts heißt der 2012 erschienene Kriminalroman der Schottin Denise Mina, der jetzt endlich auf Deutsch vorliegt.
Was menschlicher Gemeinschaft im Wege steht, sie durcheinanderbringt, gefährdet, ist das Thema von Kriminalliteratur; Ermittlerei, Polizeiarbeit, Täterjagd sind nur peripher. (Der Unterschied zur „anderen Literatur“: Das Lob des Positiven findet man im Kriminalroman eher selten.)
Götter und Tiere beginnt chaotisch: Nach dem Raubüberfall auf eine Postfiliale in Glasgow hockt ein junger Mann blutüberströmt auf dem Pflaster, ein kleiner Junge klammert sich an ihn. Als der Räuber im Schalterraum alle zwang, sich auf den Boden zu werfen, hatte ein alter Mann seinen Enkel dem jungen Mann zugeschoben, als solle er auf ihn aufpassen, war aufgestanden, hatte mit dem Räuber geredet und liegt jetzt erschossen vor der Filiale.
Es folgen weitere Szenen und Handlungsstränge, deren Sinn sich nicht auf Anhieb erschließt. Ein alternder Labour-Politiker wird von seiner Frau verdroschen; die im Romanzentrum stehende Ermittlerin, Detective Sergeant Alex Morrow, sucht nach einem Taufpaten für ihre Zwillinge und scheitert an ihrem Bruder, der einer der Gangsterbosse Glasgows ist. Ein reicher Erbe will seinen Reichtum sinnvoll loswerden, Polizisten werden Hunderttausende Pfund vor die Füße gelegt, Taxifahrer von kriminellen Unternehmen erpresst. Überall prägend: der Mangel an Gemeinschaft. Materielle und seelische Nötigung, Verachtung und Missgunst, Gier und Neid werden in Figuren aus allen Milieus anschaulich. In Anlehnung an das erste Kriminalpanoptikum einer Metropole, Eugène Sues Die Geheimnisse von Paris (1843), könnte man sagen: Denise Mina, Jahrgang 1966, hat mit dem jetzt vollendeten Quintett um ihre Detective Alex Morrow zeitgenössische „Geheimnisse von Glasgow“ geschrieben.
Und wie! Nur ein Detail: Der junge Mann, von dem am Anfang die Rede war, hat seine Lebensunsicherheit in zahllosen Tattoos auszudrücken versucht. An seinem Hals ist vom Aristoteles-Zitat nur das letzte Wort „Beasts“ zu erkennen. Eine straßenkundige Krankenschwester klärt ihn auf: „Aber Schnucki, so nennt man hier die Pädophilen.“ Lebensprall, philosophisch, realistisch: Gönnen Sie sich den weiblichen Balzac unter den Krimiautoren, gönnen Sie sich Denise Mina.
Denise Mina: Götter und Tiere
Aus dem Englischen von Karen Gerwig
Ariadne im Argumentverlag, 352 Seiten
Dieser Artikel ist in der ZEIT Nr. 46 vom 4.11.20 erschienen und steht als Nr. 1 auf der Krimibestenliste November 20
von Tobias Gohlis
Ende Fünfzig war er, als er mit dem richtigen Schreiben anfing. Da hatte er schon 35 Jahre Lohnschreiberei in den Knochen und davon (oder von den Zwängen des Arbeitens in Institutionen) die Nase voll. Diesem Überdruss eines zornigen Frührentners ist ein Werk entsprungen, das in der deutschen Nachkriegsliteratur seinesgleichen sucht.
Zehn Kriminalromane, ein Band mit Erzählungen und ein elfter Roman außer der Reihe sind in den gut zwanzig Jahren seither entstanden.
Am 5. Oktober ist Ulrich Ritzel achtzig geworden. Als ich ihm gratulierte, war er gerade vom Laufener Hausberg herunter, und in freundlichem Spott über mein asthmatisches Keuchen beim Wettrennen mit seinen Labrador-Jünglingen im Schwarzwald dreizehn Jahre zuvor meinte er, der Anstieg sei schon sehr, sehr steil…
Mit anderen Worten: weder Auszeichnungen (zweimal Deutscher und einmal Burgdorfer Krimipreis, Wächterpreis der deutschen Tagespresse) noch Lobeshymnen haben ihn auch nur ein Gran weicher gemacht. Auch nicht das Lob seiner Verlagsleiterin Regina Kammerer: „Ich bewundere Ulrich Ritzel sehr, den Journalisten, den Menschen, den Autor. Er hat nicht nur ein immenses Wissen, er weiß er auch so hartnäckig wie bescheiden umzusetzen. Wie er in seinen literarischen Kriminalromanen in die deutsche Zeit- und Nachkriegsgeschichte eintaucht, ist einzigartig.“
Geburtsjahr 1940 – das ist Last und Verpflichtung, und beides hat den Autor Ritzel angespornt. Immer wieder tauchen Erinnerungsbilder an Krieg und Nachkrieg auf, immer wieder wühlen seine Ermittler, seien es der Altersgenosse Berndorf, erst Kommissar in Ulm, später Privatdetektiv in Berlin, oder dessen Nachfolger Tamar Wegenast und Markus Kuttler in den Schuttablagerungen der Vergangenheit, untersuchen, ermitteln, rekonstruieren und tauchen nicht unversehrt daraus wieder auf.
Aufklärung – der Anspruch schien Ulrich Ritzel für seine Sondierungen immer zu groß, aus erkenntnistheoretischer wie ästhetischer Skepsis: Kann man einen Sachverhalt restlos aufklären? Und mit welchen literarischen Mitteln? Er sieht sich als „Aufräumer“, als jemand, der Brüchen und Widersprüchen nachgeht, „unaufgeräumten Geschichten“. Kindheitsträume nimmt er ernst, die haben ihn wachgehalten. So einen Traum erfüllte er sich mit einem Arbeitshaus im Schwarzwald. Auch der Umzug 2008 in die Schweiz verdankt sich der Erinnerung an die freundliche Aufnahme des „verstörten Jungen“ durch Verwandte in den Nachkriegsjahren.
Kindheitsträume müssen neu geträumt werden, wenn sie mit der Wirklichkeit kollidieren. Deshalb hat sich der Autor Ritzel vom Kriminalroman verabschiedet. Die „Tagträume eines kleinen Jungen, dessen Held schon mal über die Scheißrealität triumphieren kann“ gehen für ihn in einer Welt, die von Fake News verdüstert wird, nicht mehr auf. Aber an der Freude des Schreibens hält er unbeirrt fest, auch wenn die ihn, wie im jüngsten Roman „Die 150 Tage des Markus Morgart“ in apokalyptische Szenarien entführen, in denen halb Europa das Wasser (die Sündflut?) bis zum Hals steht. Aber darüber in den Bergen geht der Schriftsteller Gsell seiner Wege, von dem doch immerhin ein Mensch nicht nur weiß, „dass dieser einige Kriminalromane geschrieben hatte, sondern auch, dass sie von Themen der Zeitgeschichte handelten. Vermutlich hatte er ihn gegoogelt.“
Wer sich so selbstironisch über die Schulter gucken kann, hat noch viele gute (Schaffens-) Jahre vor sich. Herzlichen Glückwunsch!
Das Geburtagsständchen ist zuerst im Buchmarkt erschienen, am 29.10.20
von Tobias Gohlis
Danksagungen von Autoren – an ihre Lektoren, Katzen, Infochecker oder Partner – überliest man so was von leicht.
Daher war es eher Zufall, dass ich in der Danksagung zu Garry Dishers HOPE HILL DRIVE etwas fand, was mich stutzig machte:
„Hope Hill Drive wurde im Rahmen eines Doktorats an der LaTrobe
University geschrieben. Der Autor bedankt sich bei seiner Doktormutter,
Professor Sue Martin, und bei der Lektorin Mandy Brett von Text
Publishing, die geholfen haben, ein besseres Buch daraus zu machen.“
Ein Autor von ca. 40 Romanen und sechs umfangreichen Sachbüchern, ausgezeichnet mit zahlreichen Literaturpreisen, macht sich im Alter von 70 Jahren an eine Promotion??
Ich fragte den Doktoranden, ob ich ihn jetzt mit Dr. phil. anreden müsse und was mit den späten akademischen Ambitionen überhaupt los ist.
Garry Disher antwortete:
„Dear Tobias,
Not quite Dr yet…
I would like to report that writers discuss lofty ideas when they get together, but mostly we discuss money (or the lack of it). In mid 2016 I mentioned to a writer friend that despite my long list of publications and apparent growing success, my income had dropped steadily over the past ten years. He’d had the same experience, and suggested that I do a creative-writing PhD, as he had done. He said that often a tax-free scholarship is available and the universities gain kudos if they can attract published authors. I discovered that many of my peers had been writing novels via Australian PhD programs and scholarships for many years (why hadn’t they told me sooner…). I enrolled at LaTrobe university in Melbourne in late 2016. My course requirement was to write a novel and a 20,000 exegesis, or scholarly work. The novel, Peace, was published in Australia in 2019. It has just been published in Germany with the title Hope Hill Road. I am now completing the exegesis. My broad subject is the role of setting in fiction (I believe that setting is dynamic and vital, not merely static backdrop to characters and plot), but with only 20,000 words to work with I narrowed the topic to setting in a recent cluster of Australian rural crime novels known as ‘outback noir’ (including, for example, my Hirsch novels and Jane Harper’s The Dry). I argue that where urban investigators like Inspector Rebus or Harry Bosch are firmly rooted to place, the investigators in the outback noir novels are relative newcomers or outsiders, and face twin burdens: to familiarise themselves with a place as well as the circumstances of a crime.
The exegesis proved to be a quite different way of thinking and writing. When I write fiction, I use withholding and delaying tactics; the reader must wait until the end to finally understand what has transpired. But there is no mystery or suspense in scholarly writing, no voyage of discovery: the introduction reveals all, and the remainder is supporting evidence.
In all, writing the scholarly work has been a rewarding experience, but I will return to fiction writing with some relief. I may cast a university professor as a villain or a victim in the next book…
Best wishes,
Garry
Ich wünsche Garry alles Glück dieser Welt und bin gespannt auf seine Diss.
Reden wir nicht über Australien. Ist diese Art der Autorenförderung nicht auch in Deutschland eine gute Idee? Zudem eine Bereicherung für Lehre und Forschung?