Sechs Titel sind neu: Zwei aus den Vereinigten Staaten, je einer aus Deutschland, Großbritannien, Peru und Italien. Die Schauplätze: „Thule“, Uckermark, Norwegen, Rovaniemi, Schlesien, New York, Istanbul, Ilhas de Sotavento, „Wetherby Pond“, Venedig, „Rookthorne“, Brunswick, Maine, Lima, Paraguay, Asunçion, Uruguay, Argentinien, Bolivien, La Higuera, „Coldwell“, Washington State, Astoria, Oregon, Manhattan, „Vigàta“.
Angesichts des Großverbrechens Angriffskrieg, das Putin begeht, möchte man über Krimis schweigen. Seit drei Jahren und sieben Monaten. Und über den kollaboratorischen Imperialismus aus dem Weißen Haus ebenso.
Kriminalliteratur sei strukturell unfähig, Krieg als Verbrechen zu behandeln? Weil sie auf den Einzelfall fixiert ist? Zwei Romane auf der Septemberliste behandeln Gewalterfahrung und Krieg. In ASA lösen Erster und Zweiter Weltkrieg den Impuls aus, maximal selbst-herrlich zu werden und damit eine Gewaltgemeinschaft zu errichten. In UNTEN LEBEN wird die Gewaltgeschichte Südamerikas als Folge von Nationalsozialismus und US-amerikanischem Imperialismus grausig entfaltet, als Alb in den Hirnen, als endloser Horrorfilm.

Neu und Platz Eins im September:
1 Asa
ASA, seit mehr als zehn Jahren der erste Thriller Zoran Drvenkars, ist ein Hammer von Buch. Zusammenfassen kann man es schwer, so vielfältig, verwickelt und verzwickt ist es.
Vielleicht so: die Kolberts stammen aus Schlesien, und die Verwüstungen und Verletzungen des ersten Weltkriegs haben sie, v.a. Urahn Marten, Eines gelehrt: Nur wer auf die Familie vertraut und auf die eigene Kraft, kann der Welt widerstehen. Daraus hat sich ein Ritual entwickelt: die Kinder, Jungen wie Mädchen, werden zum Überleben in der Wildnis ausgebildet, und wenn sie so im Konfirmationsalter sind, wird das auch getestet in einer Jagd, genannt Die Prüfung. Die Kriegswirren haben die Kolberts in die Uckermark verschlagen, wo sie ein Musterdorf in maximaler Autarkie aufbauen, über ihnen ist nur der Himmel. ASA ist Martens Ururenkelin und hat – irre von Drvenkar im Auftakt beschrieben – 14-jährig die Prüfung bestanden. Danach wurde sie noch härter, viel härter. 2022 ist ASA vierundvierzig, entfessselt einen Rachefeldzug gegen die, die ihr Schicksal unabänderlich auf Gewalt getrimmt haben. Der Rest wäre Spoiler.
Hanspeter Eggenberger zeigt sich begeistertert: „ASA ist ein ungemein eigenständiger Roman – ich kenne in der deutschsprachigen Kriminalliteratur nichts Vergleichbares.“
Und Katrin Doerksen auf DF Kultur.
Weiterhin neu auf der Krimibestenliste September:
2 Der Beweis meiner Unschuld (The Proof of my Innocence)
Der britische Schriftsteller Jonathan Coe hat eine ganz persönliche Mixtur aus Autofiktion, Gesellschaftskritik und Satire entwickelt. In Der Beweis meiner Unschuld mischt er sie mit einer ordentlichen Portion Cosy Crime und einem Schriftstellerschicksal ab, das sich von dem seinen dadurch unterscheidet, dass es a) erfolglos und b) auf dem Trip des Neokonservatismus ziemlich verzweifelt hängen bleibt.
Ein Mord an einem linken kritischen Blogger auf einer Konferenz von Ultrakonservativen: das gefundene Fressen für eine Abrechung mit allem, was dumm, überheblich und thatcheristisch ist. Es beginnt mit der Nachricht vom Tod der Queen und endet lustig mit dem Rücktritt der kürzest amtierenden Premierministerin (bisher) in Great Britain. Ein doch nicht so ganz leicht durchschaubarer intellektueller Spaß.
Hier die Kritiken von Marcus Müntefering (Bezahlschranke), Sylvia Staude und Katrin Doerksen.
4 Unten leben (Vivir abajo)
Ist ASA schon mit fast 700 Seiten ein Koloss von einem Roman, wird er noch übertrumpft von UNTEN LEBEN: 600 eng bedruckte Seiten im Bibelformat, ein Kilo Gewicht. Und in mancher Hinsicht das noch größere – wenn das zu toppen wäre – literarische Kaliber.
Mit UNTEN LEBEN betritt ein Autor das deutschsprachige Terrain, der es mit den großen Lateinamerikanern aufnehmen kann und will. Gustavo Faverón Patriau (Namen merken!) wurde 1966 in Lima, Peru, geboren, promovierte an der Cornell University über spanische Literatur und unterrichtet lateinameikanische Literaur am Bowdoin College in Maine. In den USA und der Spanisch sprechenden Welt ist er als Herausgeber, Romancier, Wissenschaftler bekannt. Entdeckt und übersetzt wurde dieses gewaltige deutschsprachige Debüt von dem Scout und Ex-Buchhändler Manfred Gmeiner – hoch zu loben!
George W. Bennett ermordet 1992 in Lima einen Rainer Enzensberger(!). Bennetts Vater war Folterer und Designer von Keller-Gefängnissen bei diversen südamerikanischen Diktatoren, ausgeliehen von der CIA. Hintergründe, Vor- und Nachgeschichte dieses Mordes und der vielfältigen Spekulationen und Dokumente darüber, die Geschichte von Nazi-Verbrechern, Sadisten und Phantasten ist Gegenstand dieses ausufernden Romans, dessen Schauplätze sich über die beiden Subkontinente Amerikas erstrecken – von einer Bibliothek samt exotischem Garten in Maine bis zur Kultstätte, die bolivianische Indigene dort errichtet haben, wo Che Guevara ermordet wurde. Überwölbt, paraphrasiert, kommentiert wird diese Erzählung von Gewalt über die Schmerzgrenze hinaus von einer phantasmagorischen Literaturgeschichte Lateinamerikas.
Theodor W. Adorno hat – sehr vereinfacht gesagt – das Inkommensurable als Kennzeichen einer wirklich modernen Literatur und besonders einer Literatur nach Auschwitz angesehen. So ein buchstäblich unverdauliches, unverfilmbares, gigantisches, großartiges Werk ist UNTEN LEBEN.
6 The Return of Ellie Black
Bisher ist die US-Amerikanerin mit japanischer Herkunft Emiko Jean mit Kinder- und Jugendbüchern bekannt geworden. In ihrem ersten Thriller The Return of Ellie Black spiegelt die Ermittlerin Chelsey Calhoun die Erfahrungen einer Frau dieser Herkunft, aber unaufdringlich. Wichtiger als die Durchsetzung in einer chauvinistischen Umgebung ist für Dorfpolizistin Chelsey der unerklärliche Tod ihrer Schwester vor etlichen Jahren. Da wirkt das Wiederauftauchen der zwei Jahre zuvor entführten Ellie als Trigger: Unbeirrt von allen Widersprüchen und Hindernissen forscht Chelsey dem Geheimnis ihrer Rückkehr nach und stößt auf ein dubioses Camp in den Wäldern der Olympic Mountains.
7 Ravage & Son
Jerome Charyn (1937 geboren und damit sagenhaft produktive 88 Jahre alt) ist mein Favorit ever. Über seine Sidel-Saga durfte ich 2013 mit ihm in seinem Appartment in Greenwich Village/Manhattan einge Stunden sprechen – es war pures Vergnügen.
Nach etlichen Roman-Ausflügen in politische und Literatur-Geschichte ist Charyn nach knapp 10 Jahren wieder in das Genre zurückgekehrt, das er mit seinen Sidel-Romanen revolutioniert hat wie wenige andere.
Diesmal stehen nicht die Cops, sondern die Gangster und die Mächtigen im Zentrum, Juden allesamt. Ravage ist der Hausbesitzer, der seine Kampfkatze liebt wie eine Prinzessin, den Mieterinnen seiner Bruchbuden in der Lower East Side, dem Ghetto der aus Ostueropa eingewanderten Junden, Sex gegen Mietnachlass abpresst. Bis er sich unsterblich in Manya verliebt, sie in den Wahnsinn treibt. Was er nicht weiß: Er hat einen Sohn mit ihr.
Jahre später ist dieser Benjamin Detektiv der „Kehilla“ (eigentlich „Gemeinde“, hier die Privatpolizei der reichen deutschstämmigen Juden im nördlichen Manhattan) und soll mit seinem Bodyguard, dem (historischen) Gangster Monk Eastman einen Frauenschänder jagen, dessen verbrecherisches Treiben den Bau eines neues Kaufhauses von Woolworth behindert. Eine wilde Mixtur von realen historischen und genial erfundenen Figuren, als hätte Marc Chagall im New York um die Jarhndertwende einen Krimi geschrieben.
Genug des Schwärmens: Lesen Sie mit RAVAGE & SON einen, hoffentlich nicht den letzten, Krimi des Meisters der halluzinatorischen Imagination New Yorks.
10 Riccardino
Zwei Inspirationen haben Andrea Camilleri (1925 – 2019) bei der Abfassung von RICCARDINO geleitet. Er wollte, abgeschreckt vom traurigen Beispiel des bewunderten Manuel Vázquez Montalbán, seiner Romanfigur Salvo Montalbano einen würdigen Abschied schreiben, bevor er selbst nicht mehr dazu imstande sein würde. Deshalb verfasste er den letzten Roman mit seinem Helden 2004, überarbeitete ihn 2016 und verfügte, dass er erst ein Jahr nach seinem Tod veröffentlicht werden dürfe. Nach 2004 schrieb und lebte Camilleri noch 15 Jahre, verfasste u.a. etliche Montalbanos, aber dieser, RICCARDINO, ist definitiv der letzte. Er ist 2020 von Camilleris italienischem Verlag Sellerio veröffentlicht worden, Lübbe musste erst alle anderen vollenden, so dass er erst jetzt auf Deutsch erscheint.
Seine zweite Inspiration verdankt Camilleri seinem sizilianischen Landsmann und Vorbild, dem Literaturnobelpreisträger von 1934 Luigi Pirandello. Wie dessen sprichwörtlich bekanntes Theaterstück SECHS PERSONEN SUCHEN EINEN AUTOR
Montalbanos Abschied von der literarischen Bühne beeinflusste, müssen Sie schon selbst nachlesen.
Nur so viel: Fast alles in diesem Roman ist anders als es scheint. Nur für eins kann ich mich verbürgen: die Stimme des Autors, der sich ständig in die Erzählung Montalbanos einmischt, ist echt. Als ich Camilleri in seiner extra offiziellen Besuchen vorbehaltenen Wohnung in Rom treffen durfte, klang er wie in RICCARDINO. Eine „tiefe Raucherstimme“, die Montalbano am telefon sofort erkannte: die Stimme seines Autors.
Neben der Kriminalhandlung, die noch einmal alle Topoi Camilleris anklingen lässt (Mafia, Korruption, Kirchenkritik, die Omertà, Montalbanos Lieblingsessen, sein Dauerstreit mit seiner Schwester, das Meer bei Vigàta = Camilleris Geburtsstadt Porto Empedocle, der Schwarze Ortsheilige San Calogero) widerspricht Camilleri dem Kritikervorwurf, seine Montalbanos seien seichte Unterhaltungsliteratur – durch die postmodern raffinierte Konstruktion des Romans selbst.
Und wo gibt es alles die Krimibestenliste selbst?
Die KRIMIBESTENLISTE SEPTEMBER ist seit Freitag, dem 5. September 2025, auf Deutschlandfunk Kultur online. Ein zweiseitiges PDF kann dort heruntergeladen werden. Ein einseitiges PDF u.a. zum Aushang in Buchhandlungen gibt esauf meinem Blog Recoil sowie das Archiv aller Krimibestenlisten seit 2005.
Einige Neuheiten auf der Krimibestenliste September hat Sonja Hartl am Freitag, den 5.9., besprochen.
Nach und nach werden fast alle Neuerscheinungen der Krimibestenliste in Deutschlandfunk Kultur, immer am Freitag morgen gegen 8.20 Uhr, rezensiert. Dort können Sie die Stimmen einiger Jurymitglieder vernehmen. Am Freitag, den 5. September hat Katrin Doerksen über die Nummer eins der Krimibestenliste im September ASA gesprochen.
Das CulturMag präsentiert ebenfalls die Krimibestenliste September nebst hochinteressanten Rezensionen.
Dank auch an die Redaktion von Weltexpresso, die jeden Monat nicht nur die Krimibestenliste abbildet, und alle zehn Bücher engagiert kommentiert.
Bemerkenswertes aus der Kultur- und Krimiwelt
Wie jedes Jahr hat der Börsenverein des Deutschen Buchhandels ein ganzes Kompendium mit Zahlen und Fakten zu Verlagen und Buchhandel herausgegeben. Dort wird auch die Relevanz der Kriminalliteratur statistsch erfasst. der Umsatzanteil der Untergruppe Spannung (das sind die Krimis) in der Warengruppe Belletristik ist 2024 gegenüber dem Vorjahr um 2,9% gestiegen und macht mit 21,5% wieder ein gutes Fünftel am gesamten Umsatz der Belletristik aus. Wobei auf die Belletristik 36,6% (ein Plus von 4,3%) des gesamten Umsatzes entfällt, der in 2024 mit Büchern und Hörbüchern erzielt worden ist. Wer jetzt weiß, wieviel der In € betrug, kann sich die Wertschöpfung durch Krimis ausrechnen. Ich habe sie leider nicht. Dank dem Börsenverein und seiner Pressestelle!