Magdalen Nabb erspart in COSIMO ihren Lesern nichts
Florenz ist eine geheimnisvolle Stadt. „Gehen Sie durch die Straßen“, schreibt Magdalen Nabb, „und Sie haben nicht die geringste Ahnung, was hinter diesen weißen Mauern geschieht. Das ist das Problem, mit dem der Maresciallo tagtäglich konfrontiert wird.“ In dreizehn Romanen hat Maresciallo Guarnaccia bisher hinter die verschlossenen Türen von Florenz geblickt, zuletzt in Nachtblüten (2002). Dort stieß er in einem halb vermoderten Palazzo, gelegen auf einem der wertvollsten Grundstücke der Stadt, auf einen der armseligsten Männer der Stadt, auf einen Kunstfreund, der ein Künstler sein wollte und nichts weiter war als ein Träumer, bestohlen von seiner Entourage. Dreizehn Mal hat der Maresciallo bisher sein Bestes getan – und nun macht Magdalen Nabb richtig Ernst. Nicht mehr die Aufklärung des Verbrechens durch diesen lichtempfindlichen, gemütvollen Sturkopf, der Florenz nur mit Sonnenbrille betritt, sondern das Verbrechen selbst ist das Thema ihres vierzehnten Kriminalromans.
Anglos in Italy
Mit Michael Dibdin und Donna Leon gehört Magdalen Nabb zur Gruppe angloamerikanischer Autoren, die ihre Kriminalromane in Italien spielen lassen. Seit 1975 lebt sie in der Stadt am Arno, und seit 1981 erscheint beinahe im Jahresrhythmus ein neuer, fein komponierter Roman, der sich durch psychologische Raffinesse, intime Kenntnis der Florentiner Geheimnisse und eine komplexe Erzählstruktur auszeichnet. George Simenon, nicht gerade ein Gefälligkeitsschreiber, lobte im Vorwort zu ihrem dritten Roman (deutsch: Tod im Frühling, 1983): „Nirgendwo ein falscher Ton. Sie fangen sogar den Glanz der Luft ein, der für diese Stadt so kennzeichnend ist.“ Trotz dieser Fürsprache ist Magdalen Nabb eher ein Geheimtipp geblieben. Das ist leicht zu erklären: Sie erspart ihren Lesern die Mühen des Lesens nicht. Schon gar nicht in Cosimo.
Denn in diesem Roman über den Mord an dem fünfjährigen Cosimo verzichtet Nabb nicht nur auf die vertraute Ermittlerfigur ihres Gemütsmenschen von Maresciallo. Sie kündigt die Kriminalroman-Konvention mit dem Leser überhaupt auf, die diesem nicht nur eine kunstvolle Verrätselung und Konstruktion des Verbrechens verspricht, sondern auch eine ebenso plausible Auflösung. In Cosimo muss der Leser selbst ermitteln, und das Material, das Nabb ihm vorgibt, besteht, wie im wahren Leben, nicht aus harten Fakten und unwiderlegbaren Indizien, sondern aus Schall und Wahn.
Wie viele der besten Krimiautoren ist auch Magdalen Nabb eine erfolgreiche Verfasserin von Kinderbüchern. Deshalb gelingt ihr das Kunststück, die Geschichte von Cosimos Sterben hauptsächlich aus einer Perspektive zu erzählen, die besonders schwer glaubwürdig zu gestalten ist: aus der des fünfjährigen zukünftigen Opfers.
Vom ersten Satz an sind wir Leser in der Erlebnis-, Traum- und Angstwelt des kleinen Jungen gefangen, der sich nachts vollpinkelt und tagsüber einen weiten Bogen um die schrecklich tickende Standuhr machen muss, die ihn an den übermächtigen toten Großvater erinnert. Doch auch die Lebenden, mit denen er zu tun hat, stoßen ihn Tag und Nacht in eine Existenz aus unerfülltem Anlehnungsbedürfnis und Einsamkeit.
Einzige, schreckenerregende und zugleich verzweifelt umschmeichelte Konstante in Cosimos Familienkosmos ist die bigotte Großmutter, die den kleinen Kerl beim Erzbischof höchstpersönlich den Katechismus repetieren lässt. Die wunderschöne Mutter, in sechs Jahren Ehe nur einmal zwecks Zeugung des Erben begattet, dämmert in drogengestützer Depression vor sich hin. Und Papa treibt sich unerreichbar in der Ferne herum.
Im ersten weit ausholenden Erzählstrang macht Nabb uns zu Sympathisanten Cosimos: wir sehnen uns mit ihm nach Zuwendung, hoffen mit ihm auf die Heimkehr des Vaters, sorgen uns um die Gemütslage der Mutter. Doch kaum haben wir ihn liebgewonnen, verschwindet er – und erst die beiden nachfolgenden Erzählungen von Mutter Francesca und Vater Filippo offenbaren Schicht für Schicht, was geschehen ist – und weitere Rätsel. Irgendwie ist der kleine Junge erschlagen worden. Doch im Dickicht der elterlichen Selbstrechtfertigungen und -täuschungen herrscht Bilderverbot: Was genau geschah, wer Cosimo erschlug, bleibt der (begründeten) Spekulation des Lesers anheimgestellt. Der Auftritt eines Staatsanwalts, der nichts anderes im Sinn hat, als die steinreiche Patrizierfamilie aus der Schusslinie der Ermittlungen zu halten, ist ein Paradebeispiel für Nabbs erzschwarzen Humor. Aus der Perspektive des Täters – und das sind im bestimmten Familien alle – hat das Verbrechen kein Gesicht, und das Gesetz bleibt außen vor.
Unredigiertes Manuskript, Veröffentlichung in DIE ZEIT Nr. 45 vom 26.10.2004
Magdalen Nabb: Cosimo
aus dem Englischen von Ursula Koesters-Roth
Diogenes, 2004, 304 Seiten