Fünf Neue: aus den USA, Indien, Großbritannien, Frankreich und Australien.
Angesichts des Großverbrechens Angriffskrieg, das Putin begeht, möchte man über Krimis schweigen.
Fünf Winter (Five Decembers)
Der in Hawaii lebende und als Anwalt praktizierende Jonathan Moore hatte sich dem deutschen Publikum in POISON ARTIST mit einem fantastischen Roman über Kunst, Gift und Mord als Nachfolger Edgar Allan Poes vorgestellt.
Jetzt hat er nicht nur seinen Autorennamen in James Kestrel geändert (J. Moore/writer gibt es sehr viele auf der Welt), sondern präsentiert mit FÜNF WINTER ein historisches Breitwandpanorama, in dem Krieg (große, politische Gewalt), Mord (private Gewalt) und natürlich: Liebe nach einer großartigen Choreographie miteinander tanzen.
Alf Mayer aus der Jury der KRIMIBESTENLISTE hat im culturmag einige der Assoziationen zu Literatur und Film aufgezeigt, die Kestrel in seinem pazifikumspannenden Epos weckt und auf ganz eigene Art bündelt. FÜNF WINTER gehört zu den ganz großen amerikanischen Kriminalromanen wie Don Winslows TAGE DER TOTEN oder James Ellroys LA CONFIDENTIAL, die man gelesen haben muss.
Kestrel setzt darin eine (nicht nur amerikanische) Heldengeschichte in den pazifischen Raum, zu der Zeit, als er Weltkriegsschauplatz war. Detective Joe McGrady jagt darin einen sadistischen, vermutlich nazistischen Mörder, der den Neffen des Oberbefehlshabers der Pazifikflotte und dessen japanische Freundin gefoltert und abgeschlachtet hat. Private, Welt- und Mordgeschichte bilden einen von Kestrel souverän über die Kontinente verwickelten Knäuel: von Honolulu über Hongkong nach Japan und nochmal zurück in vier Jahren.
Zeit der Schuld (Age of vice)
Epen, große Bücher, Welterfasser: zu dieser Kategorie gehört auch der zweite Roman der 1980 im indischen Bundesstaat Uttar Pradesh geborenen und heute in Portugal lebenden Journalistin und Schriftstellerin Deepti Kapoor ZEIT DER SCHULD. In Zeit- und Ortssprüngen zwischen 2001 und 2008 geht es um drei Personen, deren Leben auf unterschiedliche Weise verwickelt ist in den zu Beginn geschilderten Unfall. Ein Mercedes rast über unter einer Brücke schlafende Tagelöhner, tötet neben anderen eine Schwangere und ihr Kind. Am Unfallort stellt sich Ajay der Polizei und wandert anstelle des bekoksten Promis, der die Limousine gesteuert hat, in den Knast. Von diesem Nukleus aus erzählt Kapoor über Ajays Aufstieg vom verkauften Kind aus unterster Kaste zum Diener Sunny Wadias, dem verwöhnten Sohn eines ultrareichen Gangsters und dessen Geliebter Neda, einer Journalistin aus verarmtem Adel. Die Szenerien wechseln zwischen Slums und Apartments der Superreichen. Gezeigt wird, wie bewunderte Megastädte durch Vertreibung und Betrug geschaffen werden. Gefragt wird, ob in dieser Ära des Lasters (so der englische Titel) ein moralisch gangbarer Weg zu finden ist. Davonkommen, Überleben ist in diesem von Korruption, Gangstern und Geld beherrschten Indien das Beste, was zu erhoffen ist.
Garten der Engel (The Garden of Angels)
Venedig 1943: das ist eine Stadt voller Flüchtender und Geflüchteter, in der jetzt der Abschaum der Nazis das Kommando hat. Zwei junge Partisanen konnten sich in der Seidenweberei Ucello verstecken. Was dann geschah – Attentate, Vergeltungshinrichtungen, Deportationen – ist enthalten in dem Manuskript, das der sterbenskranke Großvater Ucello 1999 seinem Enkel portionsweise zu lesen gibt. Ein aus den vorfindbaren Steinen Venedigs herausgelesenes und rekonstruiertes Erinnerungsmahnmal hat der teilweise in Venedig lebende Brite David Hewson mit GARTEN DER ENGEL errichtet. Der beigegebene Stadtplan Venedigs orientiert zwischen Geschichte und Gegenwart.
Die letzten Tage der Raubtiere (Les derniers jours des fauves)
„Mein Amt war, die Zeit in Anführungszeichen zu setzen, in Druck und Klammern sich verzerren zu lassen, wissend, dass ihr Unsäglichstes nur von ihr selbst gesagt werden konnte.“ (Karl Kraus im Vorspruch zu seinem Drama DIE LETZTEN TAGE DER MENSCHHEIT über die Katastrophe des 1. Weltkriegs.)
In DIE LETZTEN TAGE DER RAUBTIERE karikiert Jérôme Leroy die vorletzten Tage der fünften Republik. Präsidentin Séchards angekündigter Rücktritt weckt die lauernden Machtgelüste jener namenlosen Association, die die Geschicke Frankreichs lenkt.
Marx sprach von Politikern als „Charaktermasken des Kapitals“. Als Charaktermaske der Association agiert Innenminister Beauséant („Schönsitz“) gegen die Ambitionen des aus anderen Großsatiren Leroys und der Realität bekannten „Blocks“ der Rechtspopulisten, aber auch gegen den potenziellen Kandidaten der linken Mitte, Minister Manerville. Nach etlichen Intrigen, False-Flag-Attentaten, Mordanschlägen etc. ist das unter der Pandemie, der Hitze, dem Lockdown und dem Ausgehverbot leidende Frankreich am Rande des Nervenzusammenbruchs. Da plant Beauséant, die innig geliebte Tochter Clio seines Kontrahenten Manerville zu entführen. Leroy überspitzt, attackiert mit Witz und literarischen Anspielungen nicht nur im Titel. Literarische Aggressivität, die man den deutschen Michels auch wünschen würde.
Dinge, die wir brennen sahen (Dirt Town)
In ihrem literarischen Debüt DINGE, DIE WIR BRENNEN SAHEN widmet sich Hayley Scrivenor der australischen Kleinstadt, die sich in Verdruckstheit, Heuchelei und Kleinkriminalität nicht wesentlich von anderen agrarischen Kleinstädten unterscheidet. Sie hat sie „Durton“ genannt, was den Kindern, die das Geschehen kommentieren wie ein griechischer Chor die Königsmorde, die Verballhornung „Dirt Town“ einfallen lässt. Nach der Schule ist die 12-jährige Esther verschwunden. Nur die Leser wissen von Anfang an, dass sie tot ist. Das warum ermitteln Polizei und die gleichaltrigen Freunde der Verschwundenen. Beide machen ihre Entdeckungen. Katrin Doerksen spricht von einem „Stadtplan alltäglicher, mal mehr und mal weniger offensichtlicher Gewaltausübung“, der sich ihnen auftut. Über allem brütende Hitze und vor allem brütendes Schweigen der Erwachsenen.
Die Krimibestenliste APRIL ist seit Freitag, dem 7.April online und kann hier als PDF heruntergeladen werden. Beim Deutschlandfunk Kultur findet man sie auf der Seite Bücher des Monats. Nach und nach werden fast alle Neuerscheinungen der Krimibestenliste in Deutschlandfunk Kultur, immer am Freitag morgen gegen 8.20 Uhr, besprochen. Dort können Sie die Stimmen einiger Jurymitglieder vernehmen. Die Rezensionen sind auch online nachzulesen. Wegen Ostern ausnahmsweise am Samstag, den 8.4. hat Katrin Doerksen über FÜNF WINTER als höchsten Neueinstieg der Aprilliste gesprochen.
Außerdem finden Sie die aktuelle Krimibestenliste im CulturMag. Dank auch an die Redaktion von Weltexpresso, die jeden Monat nicht nur die Krimibestenliste abbildet, sondern auch die Veränderungen und alle zehn Bücher engagiert kommentiert.
Ich wünsche Ihnen eine aufregende Lektüre und schöne Ostertage!
Ihr Tobias Gohlis