Acht (!) neue Titel: zwei aus Deutschand, drei aus den USA, je einer aus Argentinien, Frankreich und Italien. Die Schauplätze: Los Angeles, Hamburg, Jamaika, Buenos Aires, „La Bassée“, New Hampshire, Rheinland-Pfalz, namenlose alte Stadt in den USA und Mailand.
Angesichts des Großverbrechens Angriffskrieg, das Putin begeht, möchte man über Krimis schweigen. Seit 20 Monaten.
So viel neue Titel wie in der Oktober-Bestenliste 2023 gab es meines Wissens noch nie in den achtzehn Jahren seit 2005. Die Oktoberliste bietet ein Panoptikum der Möglichkeiten: „Krimi kann Alles“ ist der Lieblingsspruch unseres Seniors in der Jury Jochen Vogt.
Ebenfalls eine Novität: Zwei verschiedene Titel, aber von einer Übersetzerin: Verena von Koskull.
Platz Eins im Oktober:
1 Alles schweigt (Everybody Knows)
Die Verderbnis Hollywoods lässt Autoren und Filmemacher nicht los. Eine besonders fiese Variante von Hollywood Babylon hat sich Jordan Harper in ALLES SCHWEIGT (hoffentlich nur) ausgedacht. Ein Kartell von Kinder- und Frauenschändern, Milliardären, Mördern und Mogulen, Produzenten und Pornographen beherrscht völlig unkontrolliert die Stadt der Engel, mit Hilfe käuflicher und erpressbarer Bullen sowie einer „Black-Bag-Agentur“ (Dank an Marcus Müntefering für diesen Terminus), die die Verbrechen und Missetaten der Betuchten publizistisch reinwäscht, ihre Kritiker verunglimpft und weder vor Erpressung noch vor Mord zurückschreckt. Mae ist in dieser Agentur groß und raffiniert geworden. Chris, Ex-Polizist und ihr Ex-Lover, tun sich zusammen, als Maes Vorgesetzter bei dem Versuch ermordet wird, aus der unfreiwilligen Schwangerschaft einer Vierzehnjährigen Erpressungskapital zu schlagen. Sie wechseln die Seiten, aber profitieren von ihren erlernten Methoden. Die Besprechung von Thomas Wörtche in Deutschlandfunk Kultur finden Sie hier.
2 Harter Fall
Altmeister Frank Göhre, der in wenigen Monaten das achte Lebensjahrzehnt beschließt, wird mit den Jahren immer knapper und schärfer. In HARTER FALL komprimiert er die Freiheitssehnsüchte und oft vergifteten Freiheitsversprechen der End-Siebziger: Drogen, Reggae, Rock, Prostitution und verknüpft sie mit den großen Träumen von Teenagern. Leitmotiv seiner Szenen oder Mini-Kurzfilme sind Paraphrasen aus dem Kultfilm jener Jahre „The Harder They Come“. Die Sehnsuchtsorte Jamaika und Hamburg werden ihres Glamours radikal entkleidet: Darunter treten Gewalt, Klassengesellschaft und Ausbeutung zutage.
3 Dringliche Angelegenheiten (Causas urgentes)
Leider kann ich zu dem Debütroman der argentinischen Journalistin, Autorin und Anwältin Paula Rodríguez noch nichts sagen – ich habe es einfach nicht geschafft, nach den ersten 3000 Seiten auch noch die 216 Seiten von DRINGLICHE ANGELEGENHEITEN zu lesen. Der Kommentar dazu in der Liste stammt von Gunter Blank – danke!
5 Geschichten der Nacht (Histoires de la nuit)
Jeden Abend bekommt die zehnjährige Ida von ihrer Mutter Marion vor dem Einschlafen eine Geschichte vorgelesen, aus einem Buch mit dem Titel GESCHICHTEN DER NACHT. Oft sind die Geschichten gruselig, aber Ida entdeckt an ihnen immer einen Aspekt, mit dem sie sich trösten kann. Und so lesen wir wohlgemut den Roman Laurent Mauvigniers (*1967 in Tours)mit dem gleichen Titel und hoffen, dass er auch irgendetwas Tröstliches enthalten wird.
An irgendeiner Stelle hat Mauvignier einmal bemerkt, er interessiere sich besonders für die Ereignisse und Gefühle, die verborgen gehalten werden. Solche werden in den GESCHICHTEN DER NACHT auf die grausamste Weise zu Tage gefördert. Drei bewaffnete Brüder, die sich ziemlich einschüchternd und pathologisch verhalten, haben die vier Bewohner des Weilers La Bassée gefangen genommen: den Bauern Bergogne, Marion, seine Frau, Ida, die Tochter, und die Künstlerin Christine. Die Geiseln werden gezwungen, ihr Innerstes nach außen zu kehren, sollen Ängste, Wissen, das sie sorgsam vor den anderen verborgen halten, den bösen Brüdern offenbaren und dabei Buße tun. Eine Ausgangssituation, wie sie Beckett in seinen pessimistischen Dramen ersonnen haben könnte, mit blutigem Ende.
Mauvignier erzählt diesen „Thriller in Zeitlupe“ unendlich verlangsamt, kurvt und kriecht um Gedanken- und Erinnerungsklippen der Gefangenen, verharrt oft unerträglich lange. Das macht die Spannung aus: Welches unterdrückte, uneingestandene intime Detail wird ans Licht kommen? Die Leserinnen bangen mit. Hierzu die Rezension von Sylvia Staude.
6 Ich hätte da ein paar Fragen an Sie (I Have Some Questions For You)
Es ist nicht ganz einfach, Rebecca Makkais Brief an einen früheren Lehrer einzuordnen: Rekonstruktion eines Verbrechens? Internatsroman? Reflexion über Podcast, soziale Medien und Wahrheit? ICH HÄTTE DA EIN PAAR FRAGEN AN SIE hat von allem etwas.
Bodie Kane kehrt zwanzig Jahre nach dem Mord an ihrer Zimmergenossin Thalia ins Elite-Internat ihrer Jugend zurück, um einen Kurs in Podcasting zu geben. Ein Thema, das sie vorgeschlagen hat, hat es in sich: Vermutlich ist damals ein Schwarzer Hilfslehrer aus der Sportabteilung zu Unrecht wegen Mordes verurteilt worden. Bodie will sich mit Hilfe ihrer Schülerinnen an das Gefühlschaos ihrer Teenagerjahre herantasten, vielleicht dabei die Rolle des Adressaten ihres Romans aufdecken und den vermutlich Unschuldigen aus dem Knast holen. Der Kommentar in der Liste stammt von Sonja Hartl. Ebenfalls danke!
7 Antoniusfeuer
Jedes Mal, wenn Monika Geier einen neuen Roman vorlegt, schlägt mein Leserherz höher: was hat sie diesmal Tolles ausgebrütet? Das Knäuel der miteinander verwobenen Erzählstränge in ANTONIUSFEUER sollten Sie am besten selber aufdröseln. Es hat schon seinen Grund, dass dieser schnell getaktete, auf mehreren Realitätsebenen jonglierende, anspielungsreiche Roman einem mit seinen immerhin 430 Seiten eher unterdimensioniert vorkommt.
Die Haupthandlung, von Bettina Boll, Teilzeitkommissarin und alleinerziehender Mutter der Kinder ihrer verstorbenen Schwester, halb intuitiv, halb scharfsinnig-deduktiv nach und nach ausgewickelt: Im kleinen Ort Frohnwiller geschehen wundersame Dinge. In der Kirche ist das Jesuskind schwarz bemalt. Der charismatische Jugendsozialarbeiter ist verschwunden. Dämonen treiben ihr Unwesen. Und Mutterkorn (mehrdeutig konnotiert) wird unter den Gewürzen des verstorbenen Pfarrers entdeckt. Viele Tote.
Ein ganz wundersamer, dem magischen Realismus der großen Lateinamerikaner verwandter Roman, dabei witziger und feministischer als diese je waren. Leider wird der Leo-Perutz-Preis, den Monika Geier hundertfach verdient hätte, nur für Romane vergeben, die einen Wien-Bezug haben. Vielleicht hat die Jury ein Einsehen: Wien liegt doch irgendwie in Rheinland-Pfalz, oder nicht?
8 Holly (Holly)
Andere mögen nachgezählt haben: In sechs Romanen Stephen Kings spielt die stotternde, schüchterne Privatermittlerin Holly Gibney eine Nebenrolle. Jetzt ist sie voll da, Hirn und Herz einer Ermittlung mit tödlichem Showdown. In der Nähe eines Parks in einer namenlosen Universitätsstadt sind über die Jahre etliche Menschen verschwunden, ohne erkennbare Gemeinsamkeiten, unter ihnen kürzlich die junge Frau, die Holly im Auftrag ihrer Mutter finden soll. Alle wurden sie Opfer eines alten Professorenpaars, die besessen versuchen, Alzheimer und Ischiasbeschwerden abzuwehren. Selbst gerade von Hexenschuss geplagt, wäre ich ganz auf ihrer Seite, hätten sie nicht diese ekelhaften Essgewohnheiten.
9 Groll (Rancore)
Gianrico Carofiglio (*1961 in Bari, Jurist, Senator) wird immer subtiler. Penelope Spada, ehemals Staatsanwältin, jetzt Ermittlerin ohne Lizenz, wird von der Tochter des reich verstorbenen Chirurgen und Professors Leonardi beauftragt, zu überprüfen, ob dessen Herzinfarkt wirklich ein natürlicher Tod war. Oder ob dessen dreißig Jahre jüngere Witwe etwas nachgeholfen hat. GROLL könnte etwa die erste Frau des Toten empfinden, hat er sie doch betrogen und gedemütigt. Keinen GROLL hingegen verspürt die junge Witwe, die sich als äußerst liebenswürdig herausstellt. Spada findet nichts wirklich Verdächtiges, aber in ihrer Einsamkeit einen freundlichen Begleiter. Auch Spuren in Richtung Geheimbündelei und Mafia versickern. Bis die eher unwillig Ermittelnde eine letzte Routineanfrage stellt. Poetisch, rätselhaft, überraschend.
Und wo gibt es überall die KRIMIBESTENLISTE OKTOBER?
Die KRIMIBESTENLISTE OKTOBER ist seit Freitag, dem 6. Oktober 2023, auf Deutschlandfunk Kultur online und kann hier als einseitiges PDF u.a. zum Aushang in Buchhandlungen heruntergeladen werden.
Als zweiseitiges PDF vom Deutschlandfunk Kultur gibt es die KRIMIBESTENLISTE OKTOBER hier.
Nach und nach werden fast alle Neuerscheinungen der Krimibestenliste in Deutschlandfunk Kultur, immer am Freitag morgen gegen 8.20 Uhr, besprochen. Dort können Sie die Stimmen einiger Jurymitglieder vernehmen. Am Freitag, den 6.10., hat Thomas Wörtche die aktuelle Nummer Eins ALLES SCHWEIGT besprochen.
Kommende Rezensionen sind auf der Seite Rezensionen des Monats nachzuhören und zu -lesen.
Das CulturMag präsentiert ebenfalls die Krimibestenliste Oktober.
Dank auch an die Redaktion von Weltexpresso, die jeden Monat nicht nur die Krimibestenliste abbildet, sondern auch die Veränderungen und alle zehn Bücher engagiert kommentiert.
Ich wünsche Ihnen eine aufregende Lektüre und schöne Herbsttage!
Ihr Tobias Gohlis